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Genesis – Seconds Out – 2CD Rezension

Nach zwei erfolgreichen Alben ohne Peter Gabriel produzierten Genesis ihr zweites Live-Album, Seconds Out. Es markierte gleichzeitig den Abschied von Steve Hackett. Für viele Fans hat dieses Album einen unerreichten Kultstatus. Christoph Laakmann und Niklas Ferch haben sich damit intensiv befasst.

 Mit Seconds Out veröffentlichten Genesis Ende 1977 ihr zweites Livealbum nach Genesis Live aus dem Jahre 1973. In der Zwischenzeit war im Genesis-Lager einiges geschehen: Die Band schuf mit Selling England By The Pound und The Lamb Lies Down On Broadway zwei in der Progressive Rock-Szene sehr geschätzte Studioalben, ehe Peter Gabriel im Frühjahr 1975 seinen Austritt bekannt gab. Die restlichen Mitglieder schrieben Material für ein weiteres Album, ohne einen neuen Sänger gefunden zu haben, weshalb schließlich Drummer Phil Collins das Mikro übernahm. Mit A Trick Of The Tail und Wind And Wuthering erschienen 1976 zwei sehr melodische, in Fankreisen ebenfalls sehr angesehene Alben in der Besetzung Banks / Collins / Hackett / Rutherford. Seconds Outbeschließt dieses vergleichsweise kurze Kapitel der Bandhistorie als Quartett: Es ist das letzte Genesis-Album unter der Beteiligung des Gitarristen Steve Hackett, der noch während der Fertigstellung von Seconds Out die Band verließ, um sich gänzlich seiner schon 1975 mit Voyage Of The Acolyte gestarteten Solokarriere zu widmen.

Seconds Out ist daher für viele Genesis-Hörer das letzte klassische Genesis-Album vor einem Wendepunkt, wie ihn wohl kaum eine andere Band mit derartigen Konsequenzen erlebt hat. Peter Gabriels Kostüme und grotesk-märchenhafte Ansagen gehörten der Vergangenheit an. Phil Collins musste sich die Rolle des Frontmanns aneignen und bediente die theatralische Ebene mit stimmlichen, mimischen und gestischen Mitteln auf seine eigene Weise, ohne überhaupt erst zu versuchen, Gabriel in dessen Art nachzuahmen. Die Jahre musikalischer Komplexität gingen langsam, aber sicher zu Ende, auch wenn der spätere Durchbruch als megaerfolgreiche Stadionband mit massentauglichen Poprocksongs zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar war.

Nachdem Genesis im Rahmen der „kleinen“ Reunion (Banks, Collins, Rutherford) im Jahr 2007 ihre Studioalben hatten remastern lassen, wurde diese von Nick Davis geleitete Verjüngungskur 2009 auch den Live-Alben – und somit Seconds Out – zuteil (siehe separater Artikel zum Live-Boxset). Die sich hieraus ergebenden Diskussionen über das Für und Wider eines solchen Aufhübschens des Backkatalogs, der Veränderung von vertrauten und möglicherweise lieb gewonnenen Hörgewohnheiten, kann in jedem Fall das Reflektieren dessen befördern, was man als wesentlich für die Eigenschaften und Qualität des Albums ansehen möchte. Welche Rolle spielt Seconds Out innerhalb der Diskographie? Welchen Eindruck machen die Songs und ihre Zusammenstellung 35 Jahre nach der Erstveröffentlichung auf unsere heutigen Ohren?

Lassen wir uns also auf eine Reise in die Vergangenheit ein, indem wir Seconds Outerneut auflegen und ihm mit wachen Sinnen folgen…

Squonk

Schon der Beginn des Albums ist uns sehr vertraut: Wir befinden uns in einer murmelnden Menschenmenge. Die Stimmung gleicht der in einer Bahnhofshalle. Kein Anzeichen von großer Konzentration oder gar Spannung, trotzdem ist allen Anwesenden eine zurückhaltende, aber durchaus erwartungsfreudige Grundstimmung gemein. Klammheimlich hört man durch die Geräuschkulisse hindurch Chester Thompsons Drumsticks einzählen, ehe sich die Band plötzlich, aber auch ein wenig schwerfällig wie eine große Dampflok in Bewegung setzt: Unverkennbar durch den kraftvollen, schleppenden Beat, das einfache, aber markante Gitarrenriff, das brummende Basspedal und nicht zuletzt die schwebend fließende Keyboardmelodie eröffnet Squonk das Konzert. Das Publikum scheint den Konzertbeginn lediglich leicht verzögert zu registrieren und lässt sich dann zu ein paar begrüßenden Jubelrufen und Beifall animieren.

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Im Vergleich zur Studioversion und Bill Brufords Interpretation auf der A Trick Of The Tail-Tour ein Jahr zuvor fällt uns auf, dass Thompsons Schlagzeugspiel dem Stück zwar einen raueren Charakter gibt – er spielt die Hi-Hat in stark akzentuierten Vierteln halboffen und haut im Refrain mit den Becken nur so um sich -, dennoch passt Squonk nicht ganz in eine Reihe mit den anderen großen Eröffnungsgesten, mit denen die Band ihr Publikum auf den früheren Touren von der ersten Konzertsekunde an emotional mitriss: Weder entfaltet es einen Donnerschlag-Effekt á la Dance On A Volcano, noch vermag es eine mystisch-fesselnde Magie auszustrahlen, wie es seinerzeit noch beim legendären Watcher Of The Skies der Fall war. Zwar lag es außerdem 1977 noch nahe, dass man sich für Eleventh Earl Of Mar hätte entscheiden können, welches sicherlich einen bombastisch-wirkungsvollen Konzerteinstieg bedeutet hätte, mit Squonk wird sich aber gegen Ende der Aufnahme für uns als Zuhörer ein Kreis schließen, wenn wir uns vier Doppelalbenseiten später die Wiederaufnahme des Hauptmotivs von Squonk in einem der mitreißendsten Konzertfinales der Rockmusik überhaupt vor Augen bzw. Ohren führen. Doch so weit sind wir längst noch nicht – lassen wir uns erst einmal von Phil Collins‘ Tambourinspiel, das wir – Phil mit verschmitztem Grinsen, Vollbart und Mütze eingeschlossen – deutlich vor Augen haben, durch das leichtfüßige Outro von Squonk geleiten…

The Carpet Crawl

…bis sich unaufdringlich wohlvertraute Keyboardakkorde anschleichen und uns mit einem Gefühl warmer Geborgenheit umschmeicheln. Carpet Crawlers, wohl die Ballade des Lamb-Albums von 1974, beginnt im Gegensatz zur Originalversion mit Peter Gabriel ohne das Vorspiel, was dem Stück durch das tiefere Klangspektrum einen wohligen, aber auch mystischeren Einstieg beschert. Die ersten beiden Strophen singt Collins zurückhaltend und sanft. Ohnehin wirkt die gesamte Band zunächst auffällig vorsichtig – so, als ob sie das Publikum nicht bei irgendetwas stören wollte. Wir jedoch saugen die Magie des Moments auf und spüren, wie die Band im Refrain langsam die Handbremse löst – dezent setzt das Schlagzeug ein und in der Neuabmischung können wir nun Steve Hacketts extrem gefühlvolle Gitarrenarbeit deutlicher hören.

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Auch Phil Collins kommt langsam in Fahrt – scheinbar ohne Anstrengung meistert er sämtliche Höhen des Refrains. Die zweite Strophe nimmt uns kurz zurück in die Stimmung zu Beginn des Stückes, bevor der zweite Refrain, in dem nun auch Tony Banks und Mike Rutherford mitsingen, das Finale von Carpet Crawlers einleitet. Mit der dritten Strophe streift die Band endlich sämtliche selbst auferlegten Ketten ab und dreht richtig auf. Der Sound wird abermals voller, Schlagzeug und Gitarren werden dominanter und Collins singt völlig befreit. Zwar entfernt er sich dabei von Gabriels ursprünglicher Gesangslinie, vermag es dabei aber trotzdem, genauso lebendig und authentisch als mitfiebernder Erzähler zu wirken, wie jener es tat. Spätestens nach der letzten Strophe und mit dem nun folgenden Outro nimmt uns der poetische Zauber von Seconds Out endgültig gefangen, wenn sich die Band wieder zurücknimmt, um den mehrstimmigen Refrain ein letztes Mal zart anzustimmen und schließlich leicht verzögernd ausklingen zu lassen.

Robbery, Assault & Battery

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Mit Robbery, Assault & Battery kommt die Leichtigkeit ins Spiel. Die auf einfachen Galgenhumor gebürstete Räuberpistole des Trick-Albums ist nicht nur ein mehr oder weniger amüsantes Intermezzo, sondern bietet uns ein beachtenswertes Bandzusammenspiel mit sehr lebendigem und leichtfüßigem Groove, einem bescheiden, aber angenehm filigran aufspielenden Hackett, einer hervorragend harmonierenden Rhythmusgruppe und dem ersten instrumentalen Höhepunkt im Mittelteil. Der feine, sehr atmosphärisch wirkende Live-Sound (wir lassen uns u.a. von den äußerst geschmackvollen Keyboardflächen sinnlich verwöhnen) und die von Spielfreude geprägte Ausgelassenheit des Songs bilden nach dem kraftvollen Squonk und dem empfindsamen Carpet Crawlers auf perfekte Weise den angebrachten, auflockernden Stimmungswechsel. Bis auf den Mittelteil mit seinem rhythmisch und melodisch sehr ansprechenden Keyboardsolo ist das Stück kompositorisch sicherlich nicht herausragend, gewinnt live aber extrem durch die quirlige Performance von Phil Collins, dem die Rolle von Harry, dem kriminellen Protagonisten, förmlich auch den Leib geschrieben zu sein scheint. Wir sehen ihn bildlich vor uns, wie er mit Harrys siffiger Gangster-Jacke bekleidet ziemlich verdutzt aus der Wäsche schaut, wenn er fast in Gabriel-Manier darstellt, wie Harry bei seinem Raub auf frischer Tat ertappt wird. Sehr kurzweilig erscheinen auch Collins‘ wildes Tambourinspiel und der losgelöste Gesang im Outro.

Afterglow

Ähnlich wie beim Stimmungswechsel zwischen Squonk und Carpet Crawlers verhält es sich auch mit dem Kontrast zwischen dem sich aufschwingenden Schlussteil von Robbery, Assault & Battery und dem elegischen Afterglow im Anschluss. Im Gegensatz zur relativ fahlen Studioversion oder zu späteren, roheren Liveversionen besticht Afterglow, das Mike Rutherford zufolge „pretty much Tony’s baby“ ist, in der 1977er-Version durch seine zutiefst ergreifende Dynamik. Die Ballade fängt zunächst distanziert und sphärisch an und wirkt hier deutlich reduzierter, als wir es vom Wind And Wuthering-Album gewohnt sind. Während die Albumversion mit ihren gedoppelten Schlagzeug- und diversen Gesangsspuren dazu tendiert, aufgesetzt-produziert und etwas kitschig-klebrig zu wirken, überzeugt diese Liveversion durch ihre natürliche Aufrichtigkeit.

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Chester Thompson spielt im Hintergrund nette, zärtliche Akzente auf dem Ridebecken, was dem Stück eine gewisse Leichtfüßigkeit verleiht. Fülle erhält Afterglow anfangs hingegen von Rutherfords langgezogenen Basspedaltönen und später dann durch Banks‘ epische Chorsounds sowie Collins‘ überragende Gesangsleistung. Obwohl er hier noch am Anfang seiner Sängerkarriere stand, wird er diese Ballade nie gefühlvoller gesungen haben als hier. Speziell die ersten beiden Strophen, deren Lyrik von tiefster Verzweiflung und dem Eingeständnis des eigenen Scheiterns handelt („But now… now I’ve lost everything … I give to you – my soul / The meaning of all that I believed before – escapes me – in this world of none…“), vermag Phil Collins mit seiner noch etwas dünnen und zerbrechlich wirkenden Stimme so berührend zu vermitteln, dass uns erst bei dieser Interpretation die schlichte Schönheit von Banks‘ Text gänzlich bewusst wird. Das wirklich Beeindruckende an Collins‘ Gesangsleistung ist jedoch, dass er nicht nur die resignativen Momente des Textes so ausdrucksstark umsetzen kann, sondern im nächsten Atemzug auch die tiefe Sehnsucht und kompromisslose Entschlossenheit, die er in der finalen Strophe an den Tag legt („And I would search everywhere – just to hear….your call…“). Dadurch schafft es Collins in beeindruckender Art und Weise, die Entwicklung zu vermitteln, die das lyrische Ich durchlebt.

Afterglow entfaltet aber natürlich erst im Zusammenspiel von Text und Musik seine ganze Kraft. Die Version auf Seconds Out ist ein Paradebeispiel für den erhabenen Moment, in dem Sänger und Instrumentalisten eine perfekte Symbiose eingehen. Wenn wir Afterglow in dieser Version hören, nimmt es uns spätestens an der Stelle ein, an welcher Collins „…no thing, no one“ singt und die Band mit einer atemberaubenden Dynamiksteigerung zur letzten Strophe ansetzt – man kann förmlich hören, wie die Musiker Anlauf nehmen, um diesen hochemotionalen Abschluss gebührend zu zelebrieren… „…and I would search everywhere…“ …wir sehen die Bühne in einer dunklen Halle aus der Totalen, während hinter den beiden Schlagzeugen dichter, rosa beleuchteter Nebel aufsteigt, der schließlich während „…just to hear… your call“ vom gleißenden Licht von vierundsechzig Jumbojet-Landescheinwerfern durchkreuzt wird… Die wuchtigen Chöre des Mellotrons werden immer dominanter, Chester Thompsons Becken klingen immer transparenter und Phil Collins singt mit allem, was er zu bieten hat… „for now I’ve lost everything…“ – Die Band ist mittlerweile vollständig in der blendend hellen Nebelwolke verschwunden, während Collins nach einem letzten, langgezogenen „I miss you more!“ hinter sein Schlagzeug rennt, um den Genesis-Romantik-Bombast durch ein zweites Finale würdig zu krönen. Die immense Wucht der beiden Schlagzeuge wirkt durch den dumpfen, warmen Sound der Tomtoms in Kombination mit den hellen, aber gleichzeitig filigranen Beckensounds abermals erhaben. Die perfekte Synchronizität von Chester Thompson und Phil Collins und die sich exzessiv steigernde Dynamik ihres Spiels bis hin zum legendären „Zappa-Fill“, den Thompson mit in die Ehe brachte, machen somit das Outro von Afterglow zum ersten großen Instrumentalmoment mit beiden Schlagzeugern auf Seconds Out und schließen die erste Seite des Albums mit grandiosem Pathos ab.

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Firth Of Fifth

Die ursprünglich zweite LP-Seite von Seconds Out beginnt dramaturgisch ähnlich wie die erste: Wuchtig und „auf den Punkt“ ertönt mit Firth Of Fifth ein absoluter Klassiker des Selling England By The Pound-Albums von 1973. Schade ist hierbei nur, dass sich Tony Banks wieder einmal das Piano-Intro geschenkt und dem Stück damit etwas von seiner es auszeichnenden formalen Geschlossenheit genommen hat. Also geht’s für uns mit einem abrupten Paukenschlag los und wir befinden uns sofort im Inneren eines der repräsentativsten Genesis-Songs der Siebzigerjahre. Speziell diese Fassung verkörpert auch den mustergültigen, klassischen Stil von Seconds Out: Wenn Collins in der sanften Gegenstrophe sein schlicht-beseeltes „A waterfall (…)“ singt, lediglich ganz dezent begleitet von ein paar Beckenakzenten und atmosphärischen Synthiestreichern, entfaltet sich eine unglaublich einnehmende Reinheit von Klangästhetik und Poesie.

Ohnehin bietet uns Firth Of Fifth ein Paradebeispiel für den einzigartigen Sound von Seconds Out. Hier wird wie bei kaum einem anderen Stück deutlich, wie sehr er von der Möglichkeit, die Instrumentalpassagen mit zwei Schlagzeugern zu spielen, profitiert. Hört man sich die Liveversion von Firth Of Fifth auf der Selling England-Tour an, fällt sofort auf, dass der Schlagzeugsound trotz aller spielerischen Brillanz wesentlich dünner und eindimensionaler war. Auf Seconds Out hingegen ist der Sound wesentlich voller und wärmer, weil sich der unterschiedliche Klang der beiden Schlagzeuge mit ihren verschiedenen Becken durch die eingespielte Synchronizität genau überlagert. Schon der Beginn des Mittelteils gewinnt durch die Möglichkeit, Schlagzeug (Thompson) und Percussion (Collins: Tambourin) live zu reproduzieren, an klanglicher Tiefe und Ausdruckskraft. Auch Steve Hacketts Gitarrensolo, wohl das Solo des Progressive-Genres, erzeugt nicht zuletzt wegen des ausgesprochen harmonischen Zusammenspiels von Collins und Thompson eine nochmals intensivere Wirkung… Hier achten wir hingerissen auf die filigranen Hi-Hatöffnungen, Kuhglockenspielereien und verschiedenen Crashbecken, die wir von beiden Seiten hören können, und die druckvollen, parallel gespielten Fills, die ebenfalls sowohl von rechts als auch von links auf uns eindröhnen und Hacketts traumhaftem Solo ein zusätzliches dramatisches Moment verleihen. Gegen Ende des Solos kreischt Hacketts Gitarre noch ein letztes Mal, bevor erneut ein brachialer Schlagzeug-Break den leicht verschleppten Schlussteil einleitet, den Banks dezent mit seiner versöhnlichen Keyboardmelodie beschließt. Noch bevor das Publikum seiner Begeisterung anhaltend Luft machen kann…

I Know What I Like (In Your Wardrobe)

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…hören wir eine Art Jam-Session der Rhythmussektion. Üblicherweise haben Genesis ihre Stücke live genauso gespielt wie in der Studioversion. I Know What I Likestellt hier eine Ausnahme dar. Die Single des Selling England-Albums hat nicht nur den besagten Einstieg spendiert bekommen; vielmehr profitieren die Livedarbietungen des Songs von seinem ausufernden Schlussteil. Dieser hat es aber in sich, sodass selbst diejenigen, denen I Know What I Like als Komposition ansonsten nicht so zusagt, durchaus Gefallen daran finden könnten. Zunächst besticht der Schlussteil durch Phil Collins‘ Tambourintanz, der jedoch naturgemäß in einer Tonaufnahme weitaus unspektakulärer ausfällt als in einer Videoaufnahme. Wer sich ein Bild von diesem artistischen Schauspiel machen möchte, dem sei an dieser Stelle der 1976er-Konzertfilm In Concert ans Herz gelegt, welcher auf der Bonus-DVD der 2007er-Neuveröffentlichung von A Trick Of The Tail zu finden ist. Für all diejenigen, denen der Tambourintanz zu langatmig wird, warten Genesis aber mit einer Reihe von Gimmicks auf, die diese Liveversion trotzdem interessant machen. So können wir auf Seconds Outbeispielsweise deutlich hören, wie Phil nach dem besagten Tanz zu seinem Drumkit eilt und einen groovigen zweiten Beat auf Kuhglocke und TomToms spielt. Wen auch das kalt lässt, der kann versuchen herauszufinden, welche Melodien früherer Genesis-Stücke die Band im Schlussteil versteckt hat. Abgesehen von dem berühmtesten und offensichtlichsten Zitat – dem Ende von Stagnation vom Trespass-Album (1970) – lassen sich der Anfang von Visions Of Angels (ebenfalls von Trespass) und ein Fragment von Dancing With The Moonlit Knight von Selling England identifizieren. Eingefleischte Fans wollen sogar in Mikes Bassläufen ein Zitat aus Blood On The Rooftops (Wind And Wuthering) ausfindig machen können, das Genesis bekanntermaßen leider niemals live gespielt haben.

Kombiniert mit Phils „I Love Paris In The Springtime“-Snippet bleibt uns letztlich also das Dokument einer ausgesprochen liebevollen Liveversion. Der Song ist substanziell sicherlich kein besonderes Highlight auf Seconds Out – gleichwohl zeigt sich an seinem Ende eine ausgesprochen intensive Publikumsreaktion. Collins ruft „Merci Paris“, es folgt ein entfesselter Aufschrei der Menge und wir fragen uns, wie diese mitreißende Atmosphäre wohl noch zu toppen ist…

The Lamb Lies Down On Broadway / The Musical Box (Closing Section)

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Im Wissen um die hochkatapultierte Stimmung lassen Genesis dem Hörer keine Zeit, um herunterzukommen. In den entfachten Begeisterungssturm hinein huschen fast unmittelbar folgend mysteriöse Keyboardklänge. Es dauert einen kleinen Moment, bis das Publikum die gebrochenen Akkorde identifiziert – als dies aber passiert ist, schwappt erneut eine Welle des Enthusiasmus auf uns über und im Zustand dieser erneut potenzierten Aufgeladenheit nimmt die Band unwiderstehlich Fahrt auf und uns mit auf dem Trip zum Broadway.

Um es vorwegzunehmen: The Lamb Lies Down On Broadway zeigt sich hier von einer ganz anderen Seite als im Kontext des gleichnamigen Konzeptalbums von 1974. Als Einzelsong erfüllte es auf der Wind And Wuthering-Tour nicht mehr die Rolle des fulminanten Openers, sondern fungierte in Kombination mit dem Schlussteil von The Musical Box als Zugabe. In der Dramaturgie von Seconds Outist es sozusagen die Zugabe vor der Pause. Hier hören wir Genesis, wie sie das Titelstück des Lamb-Albums „voll auf die Zwölf“ spielen. Während es auf der Lamb-Tour atmosphärisch nur mit dezenten Becken- und Trommelwirbeln untermalt wurde, scheppert diese Version mit geöffneter Hi-Hat, verzerrten Gitarren und markanten Bassläufen richtig. Auch das Theatralische des Refrains nimmt Collins heraus, indem er ihn wesentlich freier interpretiert („And the lamb…- yes, the lamb! – …lies down… – down, down, down!- …on Broooo-adwaaaay!“). Dem gegenüber steht der pathetische Backgroundgesang, den Banks und Rutherford im Refrain beisteuern, und lediglich ein Zwischenteil, der Carpet Crawlers vorwegnimmt. Hier kommt kurz die surreale Stimmung der Studioversion auf, bevor die Band wieder voll einsetzt. Dieser wuchtige Einsatz – in der Originalversion ebenfalls nur mit einem dezenten Trommelwirbel – wird hier mit stark betonter Hi-Hat und verspielten Gitarrenanschlägen interpretiert und steigert sich schnell wieder zum vitalen Anfangszustand.

Während Genesis also während The Lamb Lies Down On Broadway dem Publikum mit großer Spielfreude einheizen, kreieren sie mit dem sehr gelungen Übergang zum Closing Section genannten Schlussteil von The Musical Box von Nursery Cryme (1971) einen weiteren großen Live-Moment. Die Stimmung im Publikum verändert sich sofort, als wir Steve Hackett die Melodie der Musical Box anstimmen hören. Hat es eben noch ausgelassen den Takt mitgeklatscht, verstummen die Klatscher sofort und werden von honorierenden Pfiffen abgelöst – wohl wissend, was nun passieren wird… „She’s a lady, she’s got time….“ Sofort macht sich wieder Nostalgie breit. Wir hören Chester Thompson dezent durch die Klangstäbe der Chimes rascheln, während wir uns Collins dabei vorstellen, wie er die Wirkung der „Old-Man-Maske“ Gabriels durch seine Mimik zu ersetzen weiß.

Schließlich setzt das Schlagzeug ein und die von Gitarre und Keyboards gespielten Begleitakkorde steigern sich unaufhörlich…. Rutherfords Basspedal kommt dazu und unterfüttert das Klangbild… bis Collins einsetzt und genauso bizarr die von der Spieluhr ausgehende Versuchung intoniert, wie Gabriel es tat: „Why don’t you touch me?! Touch me! Why don’t you touch me?! Touch me! Touch me now, now, now, now, now!” Das anschließende instrumentale Finale, für das sich auch Collins nochmal ans Schlagzeug setzt, ist lediglich ein letztes Zelebrieren des mitunter schrägen Bombastrocks, den Genesis hier inszenieren. Die Zuschauer und -hörer haben sie da bereits völlig zufrieden gestellt, was der euphorische Applaus und die „Encore! Encore! Encore!“-Rufe nach dem letzten Ton eindeutig bestätigen. Für die damals anwesenden Zuschauer war das Konzert damit zu Ende; für uns als Hörer hält Seconds Out jedoch noch einiges parat, wenn wir die Scheibe wechseln…

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Supper’s Ready

Die zweite Hälfte von Seconds Out beginnt ähnlich wie die erste. Wir finden uns in einer verhalten applaudierenden Menschenmenge wieder, die jedoch durch Phil Collins‘ prägnante Ansage „Supper’s Ready“ hörbar in Aufregung versetzt wird. Dass ausgerechnet Supper’s Ready als einziges Stück auf Seconds Outkurz angesagt wird, ist durchaus passend. Es ist ja nicht nur der „werkhafteste“ Song der gesamten Bandhistorie und nahm seinerzeit mit über 20 Minuten Spielzeit die gesamte dritte LP-Seite ein, sondern es handelt sich auch um eine Art Mythos der Gabriel-Ära. Der Titel ist eine surrealistisch-mystische Tour de Force, in welcher die Vielfalt des kompositorischen Ausdrucksspektrums der frühen Genesis ebenso zugespitzt erscheint wie die textlich-theatralischen Wirkungsaspekte, die man im Wesentlichen mit der Künstlerpersönlichkeit Peter Gabriels verbindet.

Gerade für das Selbstverständnis der frühen Genesis-Fans bildet Supper’s Ready eine Art fixen Kristallisationspunkt. Collins, der später zuweilen abwertend davon sprach, dass Genesis von einigen dieser Fans zur Heiligen Kuh stilisiert wurden, hatte als Nachfolger Gabriels mit diesem Song auf den Tourneen 1976 und 1977 besonders wenig zu gewinnen. Eventuell aber bietet uns die zeitliche Distanz von 35 Jahren umso mehr Chancen, die sängerische Leistung Collins‘ für sich zu betrachten und zu würdigen.

Gleich zu Beginn des Epos tauchen wir mit „Walking across the sitting room…“ in ein sehr harmonisches Klanggefüge mit Gitarren und anheimelndem Basspedal ein, das mit Collins‘ warmem Gesang sehr passend abgerundet wird.

Der erste Teil von Supper’s Ready, Lover’s Leap betitelt, führt behutsam in die Erzählung ein. Im Mittelpunkt der Handlung scheint die alltägliche, aber auch romantische Situation des gemeinsamen Abendessens eines Ehepaares zu stehen. Entsprechend empfindsam und balladenhaft ist Lover’s Leap auch musikalisch umgesetzt. Der süßliche Refrain wirkt durch Collins‘ sanftere Stimme fast schon authentischer als bei Gabriel. Auch sein „Hintergrundgesang“ während der mit dem Tambourin begleiteten Instrumentalpassagen unterstreichen die friedliche Stimmung.

Diese wird jedoch im zweiten Teil, The Guaranteed Eternal Sanctuary Man, aufgelöst. Es ist bemerkenswert, wie spielend Collins zwischen Brust- und Kopfstimme wechseln kann und dadurch nicht nur den verschiedenen Charakteren, sondern auch den verschiedenen Stimmungen innerhalb dieses Teils von Supper’s Readyabsolut gerecht werden kann.

Wer auch immer im dritten Part Ikhnaton And Itsacon gegen wen kämpft – die musikalische Umsetzung des Textes ist jedenfalls sehr stimmig. Die anfängliche Euphorie der Krieger, die es kaum abwarten können, endlich in den (heiligen?) Krieg ziehen zu dürfen, ist an dieser Stelle deutlich zu spüren. Die Band spielt aufstrebend und mit einem großen Dynamikspektrum, welches sich dann während des „Battles“ erst richtig offenbart. Banks‘ muntere Keyboardphrasen dominieren hier das Klangbild, und vor allem Chester Thompson, der hier ja seine erste Tour mit Genesis spielt, glänzt dadurch, dass er Supper’s Ready trotz der vielen Tempo- und Taktwechsel mit spielfreudiger Leichtigkeit meistert.

Nach dem eher unspektakulären und von Collins mit tragisch-dünner Stimme gesungenen How Dare I Be So Beautiful? wirkt das höchst kontrastierende Willow Farm wie ein abgefahrener Drogentrip hinein in eine fremde Welt. Es besticht durch seinen knackigen Beat, Hacketts aufgedrehte Gitarrenarbeit und die gesangliche Leistung von Phil Collins, der hier wieder alle Register seiner Stimme ausschöpft und an den vielen absurden Wortspielen in Gabriels Text hörbar seinen Gefallen findet. Das letzte Drittel von Supper’s Ready gilt allgemein als der stärkste Teil des Epos. Die Apocalypse in 9/8 stellt mit ihren schrägen Instrumentalpassagen im 9/8-Takt den dramatischen Höhepunkt dar, obwohl sie zunächst relativ friedlich beginnt: Langgezogene Orgel- und Hackett’sche Gitarrenschwaden bereiten den Weltuntergang langsam vor…

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…wie die Ruhe vor dem Sturm setzt leise und unaufdringlich, aber schon das Unheil verkündend eine ursprünglich von Gabriel auf der Flöte gespielte Keyboardmelodie ein, bevor der Wahnsinn nach einem militaristisch anmutenden Marsch auf der Snaredrum endlich beginnt: „With the guards of Magoooog/ swarming arooound…“ Collins zieht die Töne lang und singt sehr eindringlich, was uns als Zuhörer gleich zu Beginn in die beschriebene Weltuntergangsstimmung versetzt. Während Gabriel dazu tendierte, durch seine groteske Selbstdarstellung und seinen gekünstelt abgehackten Gesang selbst Akteur der zu vermittelnden Szenerie zu sein, wirkt Collins für das Publikum greifbarer, weil er sich selbst weniger inszeniert. Im Instrumentalteil spielt neben den beiden Schlagzeugern Tony Banks die tragende Rolle. Mit seinen fließenden Orgelkaskaden vermag er es, das Thema des Stückes in atemberaubender Weise zu illustrieren.

In der Tat ist Apocalpyse in 9/8 ein emotional sehr ergreifendes Stück Musik. Unabhängig davon, ob man es mag oder nicht, ruft es doch bei den allermeisten Hörern eine besondere Reaktion hervor. Die eindringlichen, scheinbar ständig nach einem Höhepunkt lechzenden Orgelläufe und der bombastische Sound der beiden im komplexen 9/8-Takt scheppernden Schlagzeuger verleihen dem Part eine fast einzigartige bedrohliche Ausstrahlung. Nirgends auf Seconds Out kann man die beiden Schlagzeuge dermaßen gut unterscheiden wie hier. Alle Feinheiten, wie etwa die Ghostnotes auf den Snaredrums, sind wunderbar zu hören und verleihen der Musik trotz aller Urgewalt einen bemerkenswerten Groove. Einmal mehr können wir fasziniert lauschen, wie sich Collins und Thompson scheinbar mit Leichtigkeit kleine Wirbel und Fill-Ins zuspielen. Für zusätzliche Spannung sorgt der kurze Zwischenteil, in dem sich die Band nochmals kurz zurücknimmt und der Beat nur gestampft vorgetragen wird, bevor Collins und Thompson wieder einsteigen und durch Chinabecken zusätzliche Tragik miteinbringen, bis sich die in über 20 Minuten angestaute Energie donnerartig entlädt: „6-6-6 / is no loooonger alooooone…“ Wir stellen uns Phil Collins vor, wie er auf einer Erhöhung hinter seinem Schlagzeug steht und mit einer Intensität singt, als befänden wir uns wirklich in einer Situation, die unwiderruflich über Leben und Tod entscheidet… „And the seven trumpets bloooowing / sweet rock and rooolll / Gonna blow right down inside your sooooul….“ Während der langgezogenen Töne überlagert er sich teilweise mit seinem eigenen Echo, was die Wirkung noch verstärkt. Wild gestikulierend treibt er seine Stimme stellenweise an die absolute Obergrenze, wirkt aber trotzdem zu jedem Zeitpunkt völlig erhaben und unverwundbar. Während wir noch Collins‘ „brand new tuuuuuuneeeee“ lauschen, leitet die Band unter Herausnahme des Tempos und mittels immer wiederkehrender TomTom-Fills zum letzten Part von Supper’s Ready über…

Um den Kreis zu schließen, greifen Genesis hier den ersten Teil, Lover’s Leap, wieder auf. Demzufolge hat sich alles wieder zum Guten gewendet, der Höllentrip ist abgeschlossen, und die beiden Verliebten sind wieder vereint: „I’ve been so far from here/ Far from your loving arms / Now I’m back again, and babe it’s gonna work out fine“. Die beeindruckende musikalische Wirkung wurde auf den Touren 1976 und 1977 optisch noch verstärkt. Nicht nur singt Collins hier sehr ausdrucksstark von einem „Angel standing in the sun“, auch sein Bühnenoutfit nahm hier pathetische Züge an. In weißen, bis zum Boden reichenden Gewändern und mit schulterlangem Haar und Vollbart ähnelte er sicherlich nicht nur zufällig einer Jesus-Darstellung. Mit As Sure As Eggs Is Eggs findet Supper’s Ready jedenfalls einen äußerst eindrucksvollen Abschluss, der in einer Liveversion natürlich ungemein besser zur Geltung kommt als im Studio. Collins hält den letzten Ton, bezeichnenderweise das „…New Jerusalem“, so lange er kann, verschwindet in einem Laserkegel und die Band verschleppt den Schlussteil, bis sie ihr Meisterwerk schließlich mit einem schönen Gitarrensolo von Steve Hackett beschließt.

Wer nun dem Stück mit fanideologisch unverstellten Ohren gefolgt ist, erkennt leicht den Schwerpunkt und die Stärke der Collinsschen Interpretation: Die theatralische Wirkungsebene manifestiert sich unüberhörbar direkt im sängerischen Vortrag. Collins fordert seiner Stimme eine Vielzahl unterschiedlicher „Rollen“ ab, um den mitunter sehr scharfen Kontrasten, aber auch feinen Nuancen der sich wie eine ganze Welt auffächernden sieben Einzelparts gerecht zu werden. Diese Fähigkeiten beeindrucken umso mehr, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Steve Hackett auf seiner gerade erschienenen Neueinspielung von Supper’s Ready (Genesis Revisited II) mit fünf unterschiedlichen Sängern (inkl. ihm selbst) aufwartet, um das Werk musikalisch zu bewältigen. Es mag sein, dass Collins‘ frühe Schauspielerfahrungen ihm auch in diesem Zusammenhang zu Gute kamen. In jedem Fall aber ist deutlich zu hören, dass er seine autodidaktisch ausgebildete Singstimme ausgezeichnet einsetzt und kontrolliert. Nicht zuletzt dies ist die Voraussetzung dafür, dass er jeweils treffsicher Stimmfärbung und –ausdruck so abruft, dass insgesamt ein sehr überzeugender, lebendig-anschaulicher Vortrag entsteht.

Genesis schaffen hier also das Kunststück, das Epos der Gabriel-Ära mit Phil Collins als Leadsänger nicht nur ausreichend, sondern in einer beeindruckend-fesselnden Version auf und über die Bühne zu bringen.

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Cinema Show

Sanfte, ausgesprochen gefühlvoll gespielte Gitarrenklänge eröffnen den Schlussakt des Albums. „Home from work our Juliet…“ Mit weichem Stimmtimbre nähert sich Collins dem romantischen Gitarrenspiel an und führt uns in die etwas merkwürdige Textmontage aus griechischer Mythologie und britischer „Romeo und Julia im 20. Jahrhundert“-Adaption ein. Zuerst berichtet er uns mit süßlicher Stimme von Juliets Datevorbereitung, bevor er mit dominanterer, ausdrucksstärkerer Stimme im Gegenzug Romeos Erwartungen an den gemeinsamen Abend vermittelt: „I will make my bed/ with her tonight, he cries/ …can he fail – armed with his chocolate surprise?“ Wie schon bei Firth Of Fifth verschmelzen hier Sänger und Band vollends miteinander und beschwören eine wahrhaft poetische sowie höchst ästhetische Stimmung herauf. Collins‘ Stimme liegt der Falsettpart naturgemäß besser als Gabriels, und durch das dezente Schlagwerk, welches uns im Hintergrund atmosphärisch vereinnahmt, fühlen wir uns fast schon als Voyeure in die Handlung integriert. Jugendliche Leichtigkeit und Schmetterlinge im Bauch vermittelt der Einstieg von Bill Bruford, der mit dezenten Presswirbeln den Beat unterfüttert und das kurz danach einsetzende Zwischenspiel mit gurgelnder Percussion und Vogelpfeifen untermalt. Ähnlich wie in Lover’s Leap wird so eine friedliche, unaufdringliche, aber doch Spannung erzeugende Wirkung erzeugt, die sich kurz darauf sanft entlädt: „Na-na-na-naaa…Na-na-na-na-naaaa….Na-na-na-naa-na-na-naaaa-naaaa….“ Zurückhaltend setzt Collins an und wird nach und nach von seinen Bandkollegen unterstützt, bis eine kurze motivisch verdichtete Mehrstimmigkeit entsteht, die dann wieder in die Strophe überleitet. „Take a little trip back…“

Wir befinden uns hier längst auf einer Reise in die noch tiefere Vergangenheit, denn Cinema Show nimmt auf Seconds Out deswegen eine Sonderstellung ein, weil die Aufnahme ein Relikt der vorangegangenen Tour ist. Dankenswerterweise, muss man sagen, denn sie besticht durch die Rhythmusarbeit von Bill Bruford, der das Stück recht frei und variabel interpretiert. Er verwendet dabei allerhand Arten von Percussion-Instrumenten, mit denen er dem Song hinsichtlich der Rhythmik und Klangfarben hörbar seinen eigenen Stempel aufdrückt. Später, mit Chester Thompson, fand die Band dann wohl den Drummer, der ihren Erwartungen in puncto musikalischer Berechenbarkeit mehr entsprach. Wie immer man nun hier den Einzug neuer Akzente durch Bruford grundsätzlich werten mag – sein Zusammenspiel mit Collins im ausgedehnten Instrumentalpart groovt grandios und klingt höchst inspiriert. Vergleicht man diese Liveversion mit der Studioaufnahme von Cinema Show (1973), meint man es mit ganz unterschiedlichen Temperamenten zu tun zu haben. Kein Zweifel: Der Song erlangt in der Fassung auf Seconds Out – nicht zuletzt durch das entfesselte Spiel zweier Schlagzeuger – den Status einer Referenzaufnahme.

Dabei dominiert das Schlagzeugspiel den instrumentalen zweiten Teil von Cinema Show gar nicht mal unbedingt. Zu Beginn steht Tony Banks‘ eindringlicher Keyboardpart im 7/8-Takt im Vordergrund und zunächst spielt nur Collins Schlagzeug, während Bruford lediglich am Rande durch verschiedene Percussioninstrumente Akzente setzt. Kurz darauf setzt sich Bruford allerdings auch ans Schlagzeug und wir kommen wieder in den Genuss zweier im Zusammenspiel großartiger Schlagzeuger, die im Übrigen auch sehr schön mit Rutherfords sattem Bass harmonieren. Gegen Ende gibt es dann sogar einen kurzen Schlagzeugbattle, der aber diesem Namen alle Ehre macht. Collins und Bruford treiben sich gegenseitig an, lassen die (China-)Becken nicht zur Ruhe kommen und behalten den treibenden Beat mit Bravour bei einwandfreier Synchronizität bei, bis die Band wieder einsteigt und zum großen Finale ansetzt.

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Dance On A Volcano

Nach den vorangegangenen perlenden Keyboardläufen kommt die kontrastierende Dramatik des Eingangsmotivs von Dance on an Volcano voll zur Geltung. Zwar wirkt die rohe Wucht des Anfangs auf dem A Trick of the Tail-Album noch direkter produziert, aber im Vergleich auch etwas eckig. Organischer und dem poetischen Timbre von Seconds Out entsprechender ist nun diese Liveversion von 1977.

Die Beckenwirbel und pfiffigen Breaks wirken hier wesentlich wärmer und weniger steril. Dazu kommt der bedrohliche Bass, der uns die allgegenwärtige Gefahr des Vulkanes, den wir nun gemeinsam mit der Band erklimmen, verdeutlicht. Gehetzt wirkt auch Thompsons Hi-Hatspiel, das somit ebenfalls sehr songdienlich ist. Einzig Collins bleibt hier etwas blass. Er entfernt sich kaum von der Studioversion und singt weniger aggressiv als auf späteren Touren. Sehr gelungen ist der Mittelteil, in dem Collins einmal mehr zum Tambourin greifen kann und Hackett und Banks mit ungewöhnlichen Sounds eine munter köchelnd-blubbernde Lavasequenz inszenieren. Thompson spielt zunächst zurückhaltend, während Collins das Publikum zum Klatschen im Takt animiert, bevor die gesamte Band zum letzten Teil noch einmal in Fahrt kommt. Hier erleben wir wieder einen wesentlich volleren, kraftvolleren Sound, ehe sich auch Collins an sein Schlagzeug setzt und die Band die Bühne den beiden Drummern überlässt. Auf Seconds Out erleben wir das erste Drum-Duett zwischen Phil Collins und Chester Thompson, das ein fester Bestandteil aller weiteren Touren werden sollte. Hier hören wir lediglich ein nur wenige Takte andauerndes TomTom-Duett, das aber „straightforward“ gespielt wird und das Publikum zu begeistern weiß. Leider musste der eigentliche „Tanz auf dem Vulkan“, der völlig entfesselte und auch musikalisch etwas rohe Instrumentalteil der Studiofassung mit dem anschließend wieder abschwellenden Epilog, dem Schlagzeugduett weichen. Dadurch aber fügt sich Dance On A Volcano mit seiner immer noch sehr aufgeladenen Energetik umso besser in die sich kontinuierlich steigernde Abschlussstruktur des Albums ein, denn es endet durch die dynamisch weiter nach vorn gerichtete Sequenzierung eines der Hauptmotive melodisch aufsteigend, harmonisch offen und damit völlig ohne Spannungsverlust. Es ist noch nicht Feierabend, denn das Drum-Duett ist in vollem Gange…

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Los Endos

Nach ein paar ankündigenden Beckenschlägen setzen Collins und Thompson nun zur Überleitung zu einem der wirkungsvollsten Konzertfinals überhaupt an: Los Endos.

Eigenartig, dass ausgerechnet ein Instrumentalstück es vermag, unsere lange Reise nun auf einem Gipfel orgiastischer Empfindungen zu beschließen. Schon die aufwärts strebende Melodik der ersten Töne hebt den Song in höhere Sphären – wie ein wirbelnder Feuerwerkskörper schraubt sich die Musik, die hier keinerlei Schwerkraft mehr anerkennen mag, immer weiter in wunderschönen Spiralbewegungen nach oben und öffnet sich nach dem ersten Teil zu einem majestätischen Feuerregen, der den Himmel mit warmen Farben illuminiert.

Der folgende Mittelteil ist wieder einer der ganz großen Genesis-Momente: Wir stellen uns die Band vor, wie sie durch dezente vertikale Lichtkegel nur minimal beleuchtet wird… Nebelschwaden ziehen auf… wir hören zunächst eine Abwandlung des Dance On A Volcano-Intros, das aber diesmal durch die langgezogenen, bombastischen Töne des Mellotrons noch gewichtiger wirkt… Nach einem letzten vulkanischen Grollen der Drums setzen Collins und Thompson zum finalen Trommelwirbel an, der unaufhaltsam immer bedrohlicher wird… Unermüdlich und von Hacketts ratschender Gitarre begleitet, stampfen sie den 7/4-Takt… wir fühlen uns, als wohnten wir einem Ritual bei, dessen Ausgang völlig ungewiss ist… Während das Publikum hypnotisch mitklatscht, umschleicht uns Banks ein letztes Mal mit der Melodie von Dance On A Volcano… bis sich schließlich die angestaute Energie explosionsartig entlädt und uns Squonk mit unwiderstehlich-brachialer Urgewalt den musikalischen Höhepunkt liefert, auf den uns die Band in den vergangenen vier Minuten eingeschworen hatte…

Das Schließen des dramaturgischen Konzepts des Albums, die Korrespondenz zwischen Anfang und Ende, zwischen Squonk und Los Endos, schafft nicht nur oberflächlich Kohärenz, sondern bewirkt eine fast spirituell anmutende Überhöhung des bisherigen Hörerlebnisses.

Los Endos avancierte auf Grund seiner überragenden Livequalitäten zu einem der ganz etablierten Bestandteile von Genesiskonzerten. Auf Seconds Out hören wir jedoch möglicherweise die klassische Version des Live-Klassikers. Zwar fegt sie nicht mehr so jugendlich-stürmend wie auf der Trick-Tour durch die Ohren (wir vergegenwärtigen uns noch einmal zum Vergleich den In Concert-Film von 1976), aber dafür haben alle Tempi, Übergänge und Klangfarben nun ein den Songgehalt mustergültig treffendes Maß.

Und nicht zu vergessen: Hier hören wir ein letztes Mal das Bandmitglied Steve Hackett auf einer regulären Genesis-Veröffentlichung. Es ist beileibe keine nostalgische Attitüde festzuhalten, dass seine damalige Art, mit der Gitarre einen Song primär als Stimmungsbild zu kolorieren, denn mit virtuosen Linien oder Riffs zu dominieren, in Los Endos voll zum Tragen kommt und dieser Fassung einen für die Zukunft unnachahmlichen Stempel aufdrückt.

Der Seconds Out-Sound: Bombast und Poesie

Der Seconds OutSound vermittelt vor allem ein ausgeprägtes Raumgefühl und wirkt bei ruhigeren Passagen etwas entrückt bis ätherisch. Kritik musste der ursprüngliche Mix wiederholt deswegen einstecken, weil Hacketts Gitarrenparts nicht gerade hervorstachen und Collins‘ Stimme relativ weit hinten platziert war, was z.B. hinsichtlich der Textverständlichkeit und der emotionalen Präsenz des Gesanges ungünstig erschien. Bis heute hält sich die Legende, die Band hätte Hackett nach Bekanntwerden seines bevorstehenden Ausstiegs während der abschließenden Produktion von Seconds Out einfach „herausgemischt“, allerdings tragen auch die damals von Hackett verwendeten Sounds dazu bei, dass man sie stellenweise nur schwer von Banks‘ Keyboards unterscheiden kann.

Banks‘ Equipment zu dieser Zeit verbreitet gleichermaßen lebendige Brillanz wie auch Wärme, und die charakteristischen Sounds waren mit den sterilen Presets von der Stange, welche er in späteren Zeiten verwendete, kaum zu vergleichen. Auch Rutherfords Bässe sind angenehm kräftig, aber nie erdrückend.

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Die Drums klingen transparent bis filigran (was natürlich auch für die Stellen äußerst wichtig ist, an denen beide Drumsets parallel gespielt werden), aber trotzdem schön geerdet. Es ist erstaunlich, wie gut man als Hörer die beiden Schlagzeuge, die sich hinsichtlich Material und Größen der Kessel und Becken unterscheiden, voneinander abgrenzen kann. Speziell bei den Instrumentalpassagen mit beiden Schlagzeugern kann man dank der guten Stereoabmischung die Drumsets räumlich gut verorten.

Alles in allem handelt es sich um einen mehr geschmackvollen als brachiale Omnipotenz verkörpernden Gesamtsound. Das führt dazu, dass Seconds Out genau die poetischen Stärken entfalten kann, die für das Songwriting der Band zu dieser Zeit prägend waren. Der sphärische Beginn von Cinema Show steht hierfür ebenso exemplarisch wie die lyrischen Teile in Firth of Fifth oder Supper’s Ready. Collins‘ Gesang schwebt über allem und trägt zur Poesie des Klangspektrums ebenso stimmig bei wie Hacketts Gitarre, die er wie einen Farbpinsel einsetzt. Ein Powergitarrist ist er zumindest 1977 sicherlich nicht.

Zudem klingen seine Effekteinstellungen recht ungewöhnlich und haben des Öfteren etwas Sägendes – wäre er auch nur etwas zu laut im Mix, würden seine Stimmungstupfer schnell zum nervtötend-grellen Gedudel.

Trotzdem entfalten auch die großen dynamischen Höhepunkte des Albums klanglich eine eindrucksvolle Wirkung. Genesis zelebrieren geradezu am Ende jeder der vier ursprünglichen LP-Seiten den Bombast der Siebziger par excellence. Das besonders Gelungene daran ist aber, dass der Mix stets geschmackvoll bleibt. Da ist nichts zugedröhnt und gewollt übertrieben. Vielmehr bewahrt sich die Musik auch in diesen Momenten die poetische Dimension. Klanglich wie kompositorisch verkörpert Seconds Out reine Poesie – und da dies durchgängig so ist, gewinnt das Album mit seinem unverwechselbaren Kolorit eine als stimmiges Ganzes wahrzunehmende Identität.

Der Stereo-Remix von 2009

Der Sound des Stereo-Remixes von Nick Davis, welcher 2009 im Rahmen des Genesis Live-Boxsets veröffentlicht wurde, unterscheidet sich recht deutlich von früheren Veröffentlichungen. Insbesondere wurde ein entscheidender Makel behoben: Die Pausen zwischen den Songs auf der Originalveröffentlichung wurden entfernt, so dass der Publikums-Applaus durchgehend zwischen den Songs zu hören ist. Insgesamt fällt auf, dass das Publikum im neuen Mix wesentlich präsenter ist und man stärker das „Mittendrin statt nur dabei“-Gefühl bekommt. So vernimmt man nun im Gegensatz zum alten Mix zu Konzertbeginn von Vorfreude zeugenden Beifall und Pfiffe, sodass man Chester Thompson auch nur noch zwei statt bislang vier Viertelschläge vorzählen hört, bevor Squonk losscheppert.

Auch I Know What I Like klingt durch das nun den gesamten Song über wahrzunehmende Publikum, das sehr direkt auf Collins‘ Tambourintanz eingeht, wesentlich frischer und dynamischer. Und am Ende, nach dem triumphalen Los Endos, sind mittlerweile die ersten Takte des von Band abgespielten Musicalhits There’s No Business Like Show Business ausgespart, sodass das rhythmisch skandierende Publikum auch den Abschluss des Albums bildet. Und der Übergang von The Lamb Lies Down On Broadway zum Schlussteil von The Musical Box gewinnt durch die nun gut zu hörenden, anerkennenden Pfiffe des Publikums an Wirkung.

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Doch nicht nur die Konzertbesucher sind besser zu hören. Auch einige der Musiker kommen im neuen Mix besser zur Geltung und können mehr glänzen. Phil Collins‘ Gesang ist weiter in den Vordergrund gemischt und so offenbart uns Nick Davis Feinheiten in dessen Ausdrucksweise, die man vorher nie in dieser Klarheit hören konnte. Speziell die erste Hälfte von Supper’s Ready profitiert ungemein davon, da man die theatralische Umsetzung des Textes viel facettenreicher wahrnehmen kann. Auch der Kritikpunkt am alten Mix, man könne Steve Hackett kaum hören, erscheint nun abgemildert: Durch das gesamte Album hinweg sind Hacketts Gitarren präsenter und Banks‘ Keyboards verlieren einen Teil ihrer Dominanz. Vor allem in Afterglow und Carpet Crawlers entsteht so ein gesteigerter Hörgenuss, weil hier früher Gitarre und Keyboards kaum zu unterscheiden waren und Hacketts gefühlvolle Akzentuierungen fast völlig in Banks‘ Soundteppichen untergingen.

Auch die einzelnen Instrumente der Drumsets nebst Percussion klingen unterscheidbarer, präsenter und transparenter. Hinsichtlich der Bässe gewinnt man den Eindruck, als sorgten sie für eine Art Zusammenhalt des Sounds: Sie sind noch runder und voller, erdrücken aber weiterhin an keiner einzigen Stelle das musikalische Arrangement.

Nick Davis hat hier das Kunststück vollbracht, die Kritikpunkte am alten Mix konstruktiv aufzunehmen, ohne jedoch den einzigartigen Charakter des bombastisch-filigranen Seconds Out-Sounds zu verfälschen oder gar zu zerstören. Durch das neu ausbalancierte Gleichgewicht der verschiedenen Musiker gewinnt der Gesamtsound der Band deutlich und auch durch das gesteigerte Livegefühl, welches nicht zuletzt durch das Verschwinden jeglicher Pausen zwischen den einzelnen Songs befördert wird, wirkt das Album atmosphärisch noch einnehmender.

Tracklist vs. Setlist oder: Wie viel Authentizität benötigt ein Live-Album?

Zu LP-Zeiten mussten Musiker in Einheiten von etwa 20 Minuten planen. Selbst eine Doppel-LP reichte zur Dokumentation eines vollständigen Konzertabends nicht aus. Yes und Emerson, Lake & Palmer veröffentlichten in der ersten Hälfte der Siebziger deshalb ungewöhnlicherweise sogar Dreifachalben und setzten damit Maßstäbe im Bereich der progressiven Rockmusik.

Genesis beschieden sich mit der gewöhnlicheren Variante, die unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten kalkulierbarer war. Nichtsdestotrotz standen sie durchaus in Konkurrenz zu ihren eben genannten Kollegen.

Die Frage, wie man den nun auftauchenden Konflikt zwischen Setlist und Tracklist am besten hätte lösen können, beschäftigt zumindest die Fans noch heute: Welche Chancen wurden da vertan! Nur ein einziger Song, Afterglow, repräsentierte das damalige Touralbum Wind And Wuthering – die epischen Großkaliber Eleventh Earl Of Mar und One For The Vine sowie das intensive Instrumental …In That Quiet Earth blieben jedoch wohl kaum aus Qualitätsgründen auf der Strecke: Schließlich fanden sie immerhin noch ihren Weg auf die Live-Setlists kommender Jahre.

Stattdessen musste man hinnehmen, dass ein vordergründig schlichterer Song wie Robbery Assault & Battery und mit Cinema Show sogar ein Aufnahme-Relikt der vorangegangenen Tour den knapp bemessenen Raum blockierte. Letzteres bedeutete auch, dass Seconds Outwohl kaum den Anspruch auf dokumentarische Authentizität erfüllen sollte, wenn denn eine Montage zweier Tourneen auf Vinyl gepresst wurde. Aber, so fragte der begierige Fan weiter, hätte man dann nicht konsequenterweise weitere Highlights der Trick-Tour von 1976 wie Entangled, it / Watcher Of The Skies oder sogar mit White Mountain (von Trespass) einen besonderen Zungenschnalzer für die Fans der Frühzeit berücksichtigen können? Zumindest die 1976er-Darbietungen von it / Watcher Of The Skies und Entangled wurden später noch auf Three Sides Live („Four Sides Live“-Version) bzw. Archive # 2 offiziell veröffentlicht.

Nicht nur die Tracklist, sondern auch das bereits genannte Problem der Authentizität hatte mehrere Facetten: Die Chronologie der Setlists von 1977 bildete sich nur sehr bedingt auf Seconds Outab: Einzig Squonk als Opener hatte seinen Platz behalten. Und selbst Los Endos war ja in Wirklichkeit nicht der letzte Titel des Abends. Als Zugabe wurden danach noch The Lamb Lies Down on Broadway sowie The Musical Box (Closing Section) gespielt, die auf dem Album dann die erste Halbzeit beschließen.

Ein weiterer „Fake“ ist die Suggestion, Afterglow wäre als isolierter Einzelsong gespielt worden. Fakt ist aber, dass es live den fließenden Übergang von …In That Quiet Earth zu Afterglow wie auf dem Studioalbum gab, was erneut die Frage aufwirft, warum die Band sich nicht gegen Robbery, Assault And Battery entschied…

Hätte, hätte, Fahrradkette. Genesis hatten diesbezüglich wohl wirklich die Qual der Wahl. Wer aber mit dem Wissen um die auszufüllenden vier Abschnitte eines Doppelalbums genau auf die Entwicklung musikalischer Spannungsbögen achtet, weiß letztlich, worauf primär Wert gelegt wurde: Das Strukturprinzip von Seconds Out folgt LP-Seite für LP-Seite durchgängig einem ausgeprägten Sinn für die ausgleichende Abfolge von Gegensätzen, für die treffsichere Gestaltung von Steigerungen und nicht zuletzt für die bereits angeführte konzeptionelle Geschlossenheit des Ganzen. Nach dem wuchtigen Squonk folgt zunächst ein zurückgenommen-lyrisches Carpet Crawlers, dann belebt das humoristisch-leichte Robbery, Assault And Battery das Geschäft (diesen Einzug von Scherzhaftigkeit und rhythmischer Auflockerung hätte man mit dem bombastischen und wenig organisch durch den einleitenden Schlagzeugwirbel beginnenden …In That Quiet Earth aufgegeben), und schließlich rundet das hierzu wiederum kontrastierende Afterglow den ersten Teil mit einer unüberhörbar grandiosen Finalwirkung ab. Wirkungstechnisch ist dies einer klassischen viersätzigen Sinfonie nicht ganz unähnlich.

Der Aufbau der zweiten Seite lebt wiederum von einem gewichtigen Einstieg (Firth Of Fifth), welcher die lyrischen Gegenwelten in Form der Instrumentalteile gleich in sich selbst trägt, einer Phase der Ausgelassenheit (I Know What I Like mit der Tarantella sowie dem direkten Einbezug des Publikums) und dem anschließenden Finalmedley, welches die erste Hälfte des Albums stimmungstechnisch spürbar abrundet.

Völlig nachvollziehbar dann die Platzierung von Supper’s Ready auf LP-Seite drei: Hier baut sich die Spannung nun nach dem eben vorangegangenen Höhepunkt erst langsam wieder auf, um dann durch die Kompositionsstruktur selbst bedingt am Ende einen apotheotisch anmutenden Abschluss vorzuweisen. Zudem bietet der Song erneut eine in sich geschlossene Welt der kontrastierenden Gegensätze.

Der Spannungsverlauf des vierten und letzten Teils wird dann fast linear gesteigert und macht seiner Funktion als Finalseite alle Ehre: Cinema Showbeginnt ruhig, erfährt durch die sukzessive Verdichtung der Instrumentierung und das losgelöste Keyboardsolo eine dynamische Intensivierung, überlässt dem furiosen Dance On A Volcano das Feld, bevor selbst diese Wirkungsebene dann noch einmal von Los Endos überboten wird.

Vor diesem Hintergrund wird klar, dass das Prinzip dokumentarischer Authentizität zugunsten eines möglichst perfekten, in sich geschlossenen Spannungsbogens aufgegeben wurde. Daher erscheint es zumindest fragwürdig, ob Seconds Out mit einer anderen Tracklist eine ähnliche Wirkung bei den Hörern hätte erzeugen können.

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Fazit: 35 Jahre Seconds Out

„Genesis themselves have said (…) that they never made a Dark Side of the Moon, but (…) they came pretty close with Seconds Out.” (Al Murray)

Wer in das Booklet der Remastered-Fassung von 2009 schaut, stolpert schon nach wenigen Sätzen über dieses Urteil. Wenig Überzeugungskraft gewinnt die Wertschätzung des britischen Komikers und bekennenden Genesis-Fans aus der Beschaffenheit ihres Kontextes heraus: Der Heroldsdichter stimmt hier das bestellte Loblied auf den Hof seines Fürsten an. So jedenfalls könnte der kritische Leser denken. Und anhand von Verkaufszahlen lässt sich eine herausragende Sonderstellung von Seconds Out auch kaum belegen.

Dennoch darf Murrays Gedanke mit gebotener Vorsicht aufgenommen werden – auch in Fankreisen der Band sowie der Prog-Szene allgemein genießt Seconds Out ein unübersehbar hohes Maß an dauerhafter Wertschätzung. Und immer wieder taucht der Begriff „Klassiker“ auf.

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Tatsächlich zeigt Seconds Out vor allem zweierlei: ästhetische Reife und eine einzigartige strukturelle Geschlossenheit als Livealbum. Zudem bietet es die großen Höhepunkte der musikalisch komplexeren Bandphase bis 1977 dicht an dicht. Die dargebotenen Versionen der Songs bestechen auch heute noch durch ein Höchstmaß an Spiel- und Klangkultur sowie äußerst geschmackvolle, maßvolle Interpretationen. Das nahezu perfekte organische Zusammenspiel der Musiker erfolgt so konsequent im Dienste der Musik, dass der vertiefte Hörer gar nicht merkt, auf welchem Niveau Genesis hier als Ensemble funktionieren. Damit unterscheidet sich Seconds Out erheblich von den beiden anderen großen Livealben des Siebzigerjahre-Progs: Sowohl Emerson, Lake and Palmer auf Welcome Back My Friends To The Show That Never Ends als auch Yes auf Yessongs gaben darauf jeweils den einzelnen Mitgliedern wiederholt eine Bühne zur Selbstdarstellung und wollten damit scheinbar ihr fragwürdiges Virtuosenimage zementieren. Billige Effekthascherei, modisch sich schnell verbrauchendes Soundgeplänkel, spieltechnisch-selbstzweckhafte Extravaganzen, überbordende Tempi, ausufernde Soli oder übertrieben gestaltete Sentimentalitäten sind auf Seconds Out Fehlanzeige. Die Musik wirkt unter anderem deshalb bis heute zeitlos.

Das Album kann mit Fug und Recht als mustergültige Referenz nicht nur für die Genesis der Siebziger, sondern insgesamt für diejenige Rockmusik jener Dekade dienen, welche die künstlerischen Möglichkeiten des Genres pionierhaft und seriös erweiterte – vor allem in kompositorischer Hinsicht.

In diesem Sinne möchte man das Zitat Murrays in der Tat verändern: „Genesis never made a Dark Side Of The Moon, but they made – Seconds Out!“

Autoren: Niklas Ferch / Christoph Laakmann, Oktober 2012
Fotos: entnommen aus dem Booklet / der LP-Innenseite