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Genesis – Nursery Cryme – CD Rezension

Genesis‘ Aufstieg zur Größe im Progressive Rock war ohne Zweifel Nursery Cryme. Trotz des ausbliebenden Erfolgs wird dem Album Klassiker-Format zu Gute geschrieben. Warum das so ist, versuchen wir in einer Rückschau zu klären.

November 1971

November 2021 – Nursery Cryme, das erste Album des „klassischen“ Line-Ups (Tony Banks, Phil Collins, Peter Gabriel, Steve Hackett und Mike Rutherford) feiert 50jähriges Jubiläum. Das genaue Veröffentlichungsdatum lässt sich nicht rekonstruieren. Oft wird der 12. November genannt, aber es gibt keine Belege dafür. Wer also einen Beleg hat, kann sich gern mit uns in Verbindung setzen.

Nun sind es also bereits 50 Jahre. In dieser Zeit gewann dieses Album immer neue Fans hinzu und sein Kultstatus ist bis heute sehr präsent. Also feiern wir dieses Jubiläum und schauen zurück. Die folgende Einordnung zu Nursery Cryme schrieb Steffen Gerlach im Jahr 1999 – sie wurde erstmals im it-Magazin #27 veröffentlicht.


Bis es zur Fertigstellung des dritten Genesis-Albums kam, mussten einige Steine aus dem „Weg nach oben“ geräumt werden. Nach dem Ausstieg von Gitarrist Anthony Phillips und der Trennung vom Drummer John Mayhew war das Selbstbewusstsein jedoch noch so stark, dass man die Suche nach neuen Mitstreitern einer Bandauflösung vorzog.

Eine Anzeige im Melody Maker, die dem auf der Suche nach neuen Herausforderungen befindlichen Drummer Phil Collins ins Auge fiel – „Tony Stratton-Smith braucht Schlagzeuger akustischer Musik und 12-Saiten-Gitarristen“ veranlasste selbigen, sich einen Termin für ein Vorspiel bei dieser ihm noch unbekannten Gruppe zu verschaffen. Von Tony Stratton-Smith erfuhr er außerdem, dass auch die Stelle des Gitarristen neu zu besetzen sei, und brachte so seinen Kollegen aus seiner Ex-Band Flaming Youth, Ronnie Caryl, gleich zu dieser „Audition“ mit. Der Vorteil für Phil war, dass er den anderen Drummern zuhören konnte, ihre Schwächen erkannte und so besser einschätzen konnte, was von ihm verlangt werden würde. Seine Qualitäten haben wohl die der ca. fünfzehn Konkurrenten in den Schatten gestellt, und so bekam er verdienterweise den Job bei Genesis. Nicht so Ronnie Caryl, der letztlich nur für einen einzigen Gig den Part des Genesis-Gitarristen übernehmen durfte.

Während man also weiter nach einem geeigneten Gitarristen Ausschau hielt, nutzte das Quartett die kommende Zeit für Proben in einem ausgedienten Darrhaus namens „The Maltings“ in Farnham. Tony erinnert sich: „Zeitweise war es ziemlich schrecklich, als 4-Mann-Band zu spielen. Es war wahrscheinlich der Zeitpunkt, an dem ich mich als Musiker am meisten weiter entwickelt habe, als es notwendig war, auf der Bühne zwei Parts gleichzeitig zu spielen.“ Wie er das anstellte, erklärt er so: „Ich musste alle Gitarrenparts auf dem E-Piano übernehmen, welches ich durch einen Verzerrer schickte, um den Klang einer E-Gitarre zu simulieren.“ Aber auch Mike musste sich ranhalten: „Es war schwer für Tony und mich, aber gleichzeitig denke ich, dass es eine ziemlich gute Phase war … Ich denke, Tony stand unter Druck, nun zusätzlich eine Menge von Ants Zeug spielen zu müssen … Ich war immer gewohnt, mit einem anderen Gitarristen zu arbeiten, und plötzlich begriff ich, viel härter arbeiten zu mü?ssen. Und, ganz klar, mein Spiel hat sich verbessert. Es war schwierig, einige der alten Stücke nur mit mir und Tony als Instrumentalisten zu spielen.“ Und während Tony mit seiner neuen Aufgabe zu kämpfen hatte, freuten sich die anderen über den Newcomer in der Band: „Es gab einen definitiven Umschwung, als Phil in die Band kam. Er war ein wirklicher Drummer – etwas, von dem ich bei Chris Stewart und John Mayhew nie so überzeugt war“, so Peter Gabriel, und Mike sah die Sache ähnlich: „Seit dem Einstieg von Phil wurde das Drumming sehr wichtig, es brachte automatisch eine neue Dimension mit hinein, was mit den Drums möglich ist, wenn sie gut und richtig gespielt werden.“

In dieser Periode entstand ein wichtiges Stück Musik: „Die letzte Sache, die wir als Vierer schrieben, war The Musical Box und schon sehr nahe an dem, wie es auf Nursery Cryme kam, nur ohne den Gitarrenteil“, meint Tony, denn ohne Gitarrist ist das ja auch schwierig. Die zahlreich anstehenden Promotion-Gigs für das Trespass-Album ließen aber auf Dauer die „Vier-Mann-Notlösung“ nicht zu, und so schnappte man sich kurz entschlossen den Gitarristen Mick Barnard, dessen Fähigkeiten sich aber später leider auch nur als Notlösung herausstellten. Dazu Mike: „Irgendwie hat’s mit Mick nicht so geklappt. Aber er war gut und wurde mit der Zeit immer besser. Er war mit uns so sechs Monate unterwegs auf Tour … Wir mussten jemanden finden, der anders war. Wir waren ungefähr mit 80 Jungs in Kontakt, ob ihr’s glaubt oder nicht … „. Die Suche hatte endlich ein Ende, als sie auf Steve Hacketts Anzeige im Melody Maker reagierten. Den ersten Kontakt mit seinen zukünftigen Kollegen beschreibt Steve so: „Ich fühlte mich nicht wirklich so, als hätte ich einen Vorspiel-Termin, weil Pete und Tony zu mir nach Hause kamen. Ich spielte ihnen gemeinsam mit meinen Bruder vor. Ich traf sie als Individuen, spielte ihnen ein paar Sachen vor, und die Interaktion fing von da an, wirklich.“ Die Proben für die Konzerte ermöglichten der Band, sich auf die neue Besetzung einzustellen, und nach ein paar Monaten „on the road“ konnte man sich dem Schreiben für das nächste Album widmen. Fast den ganzen Sommer ’71 verschanzte man sich im Luxford House auf dem Land, Tony Stratton-Smiths Adresse in Crowborough, Surrey. Mike: „Bald nach Steves Einstieg fingen wir an, Nursery Cryme zu schreiben … Es war ein sehr schwer zu schreibendes Album, da wir uns neu aufeinander einstellen mussten. Es war eine Sache, Steve mit auf Tour zu nehmen, um die Songs zu spielen, die wir ursprünglich zu viert geschrieben hatten, aber es war eine ganz andere Sache, als es soweit war, Ants Rolle als Komponist zu besetzen.“ Auch Tony musste feststellen, dass sich die Zeiten geändert hatten: „Nursery Crymewar ein sehr schwieriges Album. Alles auf Trespass hatten wir schon live gespielt und hatten so jede Menge Material, aus dem wir auswählen konnten. Aber mit Ausnahme von The Musical Box, was live gut ankam …, hatten wir noch nichts Neues geschrieben…“. Außerdem spürte er auch an der Arbeitsweise, dass zwei neue Charaktere an Bord waren: „Wenn jemanden von uns etwas begeisterte, antworteten wir, indem wir dazu spielten. Es ist die Methode, nach der wir immer arbeiteten. Ich denke, es ist o.k. zu sagen, dass Steve und Phil sich dazu nicht so sehr in der Lage fühlten, vor allem in der Anfangszeit, sie waren ja die Neulinge. Wir drei waren hingegen so was wie eine Clique.“ Das erkannte auch Peter: „Wir taten uns schwer, unser Territorium freizugeben … Steve begann als erster, sich zu behaupten, und drängte darauf, ein paar Songs einzubringen. Es gab einiges, was uns allen gefiel, aber auch vieles, was uns nicht gefiel. Ich glaube, das hing zum Teil damit zusammen, dass Steve weniger in der Lage war, den Rest der Band zu manipulieren, als wir. “ Die neue Situation im Kollektiv Genesis sah Steve so: „Der Unterschied war, dass wir früher immer gute Kumpels in einer Band waren, wobei wir in dieser Situation nicht unbedingt Freunde als vielmehr Kollegen waren. Wir waren eine Arbeitsgemeinschaft, und wir mussten durch vieles durch, was sehr erschöpfend war und was mich oft verunsicherte, ob ich dem Job überhaupt gewachsen sei.“ Gerade für ihn war es auch das erste Mal, dass er tatsächlich Einfluss und Kontrolle über ein Album haben würde. Das „Sich-neu-aufeinandereinstellen-Müssen“ machte Nursery Cryme zu einem der am schwierigsten entstandenen Genesis-Alben und einem der umstrittensten innerhalb der Band. Auch wenn vor allem den Texten anzumerken ist, dass der Humor einen weitaus höheren Stellenwert als beim Vorgänger-Album einnimmt, ist eine musikalisch betrachtet bahnbrechende Weiterentwicklung seit Trespass – obwohl zwei Fü?nftel der Band neu waren – nicht festzustellen. Das war wohl auch die Meinung des Labels Charisma, das die Platte veröffentlichen sollte. Dazu Tony: „Ich finde, eines der deprimierendsten Dinge bei Nursery Cryme war der Mangel an Rückmeldung seitens der Plattenfirma. Es sah nicht so aus, als würden sie es richtig mögen. Ich denke, zurückblickend ist es mein ‚unliebstes‘ Album. Lediglich The Musical Box und Fountain Of Salmacis holen’s für mich wieder raus.“

Phil, der als arrangement-erfahrenster Musiker zur Band stieß, sieht die Sache so: „Nursery Cryme ist nicht eines meiner Lieblingsalben. Es klingt, als ob jeder mit zwei Händen auf dem Keyboard spielt. Da gibt’s fette Akkorde, noch dazu zwei Gitarren und einen echt großen Schlagzeug-Sound. Peters Stimme ist sehr dick, und als Ergebnis klang es, als würde es alles auf dieses Stückchen Band gequetscht werden.“ Und Mike zieht sogar Vergleiche mit dem späteren Selling England By The Pound-Album: “ … da gibt’s ein paar sehr starke Höhepunkte, aber auch einige sehr schwache Durchhänger.“ Das Album – der Albumtitel Nursery Cryme setzt sich übrigens aus dem Wortspiel „nursery rhyme“ (Kinderreim) und „crime“ (Verbrechen) zusammen – wurde genau wie sein Vorgänger in den Londoner Trident Studios im August ’71 von John Anthony aufgenommen und produziert und ohne viel Promotion im November ’71 veröffentlicht. Die Hoffnung, mit diesem Album den Durchbruch zu schaffen, war klein, und so konzentrierte man sich wieder darauf, sich eine Fangemeinde über Live-Gigs zu erspielen. Es dauerte jedoch nicht lange, bis unerwartet gute Neuigkeiten ins Haus flatterten …

Autor: Steffen Gerlach

Erinnerungen an Nursery Cryme, Gedanken zum Album und deine drei Lieblings-Tracks des Albums – in diesem Thread im Forum.

zuerst veröffentlicht in itNr.27 (Herbst 1999)