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Genesis – Mark Bell: The Lamb Lies Down On Broadway – Rezension
Mark Bell rekonstruiert die Entstehungsgeschichte, den Inhalt und das Nachleben des Albums. Martin Klinkhardt hat nachgelesen.
Mark Bell wagt den bislang umfassendsten Blick über das Album
„Ich habe bis heute noch nicht verstanden, worum es in The Lamb geht.“ Diesem ehrlichen Bekenntnis eines nicht unbekannten Schlagzeugers können sich viele Fans anschließen. 23 Stücke mit und ohne Texte, dazu eine Begleitgeschichte, deren Handlungsfaden vor lauter Anspielungsfreude mitunter sehr ausgefranst wirkt, jede Menge skurrile Bilder, Gestalten, Momente … und auch wer mit größter Aufmerksamkeit eine ganze Kette von The Lamb-Konzerten der vorzüglichen Kanadier The Musical Box verfolgt, wird den Saal hinterher wahrscheinlich begeistert, aber dennoch vermutlich eher ratlos als von Erkenntnis erfüllt verlassen.
Anfangs musste man als Lamb-Erforscher wie ein Goldwäscher gewaltige Mengen an Interview und Artikeln durchsuchen, um hier und da ein Goldkrümelchen an Information über The Lamb zu erhaschen. Deutlich besser wurde die Informationslage mit Chapter & Verse sowie besonders mit Kevin Holm-Hudsons Monographie über das Album, in dem die Handlung und die Auslegung zwar thematisiert werden, aber nicht die Hauptrolle spielen.
Wie ein Blitz aus heiterem Himmel erschien jetzt im November 2022 das Buch The Lamb Lies Down On Broadway (Genesis 1974-1975) von Mark Bell. Untertitel und Klappentext klingen viel versprechend: Die „spannende Entstehungsgeschichte des Albums“ werde rekonstruiert, und das Buch „erläuter[e] Stück für Stück den mysteriösen Inhalt“. Nicht zu vergessen ein Abschnitt über die Darbietung auf der Tournee, Gabriels Ausstieg und das Fortleben des Albums. Damit lassen sich 456 Seiten ganz kommod füllen. Allerdings hat man die Fans des Albums im Nacken, die alle ihre eigenen Ideen mitbringen und die Frage, ob da nicht jemand den Mund recht voll genommen hat.
Die ersten fünf Kapitel zeichnen die Entstehungsgeschichte des Albums nach, beginnend mit der Situation der Band im Speziellen und der Welt der Musik(presse) im Allgemeinen. Hier merkt man dem Autor den Historiker an. Seine Rekonstruktion der Ereignisse wirkt plausibel, und aus der Vielzahl herangezogener Quellen und Materialien fördert er manches wenig beachtete und doch spannende Detail zutage.
Im sechsten Kapitel betrachtet Bell das Thema und mögliche Inspirationsquellen für die Handlung von The Lamb. Die Theorie, dass Peter Gabriel seine eigene Position im Verhältnis zu den anderen Bandmitgliedern einerseits und vor allem auch seinen psychischen Aufruhr in jenen Tagen in der Geschichte von Rael verarbeitet hat, wird hier sehr plausibel gemacht und schlüssig begründet. Erfreulicherweise ist Bell auch weitgehend nicht der Versuchung des Zirkelschlusses erlegen, aus den Lamb-Texten wiederum Aussagen über Gabriels Psyche herauslesen zu wollen.
Den einzelnen Stücken des Albums widmet sich das siebte Kapitel. Hier hält sich Bell an einen dreigliedrigen Aufbau, indem er das Geschehen des Songs beschreibt, die Musik schildert und die Handlung interpretierend kommentiert. Wertende Abweichungen von der ansonsten weitestgehend gewahrten Sachebene sind in der Diskussion der Musik fast unvermeidlich und seien hier nur beobachtet, keineswegs kritisiert.
An dieser Stelle wäre es verführerisch, einige der (wenigstens für den Rezensenten) so noch nicht gesehenen Interpretationen (beispielsweise: wofür das Lamm steht) zu referieren, oder andere für ihre erhellende Darlegung zu loben, oder bei wieder anderen zu kritisieren, dass sie mehr in den Text hineinzulegen scheinen als herauszuholen ist. Wir nehmen hier Abstand davon, denn ob man den angebotenen Auslegungen folgen mag, oder nicht, möge jede/r für sich selbst entscheiden. Dieses sei allerdings gesagt: Die Interpretationen ordnen sich insgesamt der eingangs entwickelten These unter, dass The Lamb ein Schlüsseltext zu Peter Gabriels seelischer Befindlichkeit im Sommer 1974 ist. Es gibt aber fast überall eine nachvollziehbare Herleitung der Ausdeutungen und einen großen Fundus an Belegen. Auch wenn manche Leser Fußnoten nur sehr ungern in ihren Büchern sehen, sind sie hier ein unbestreitbarer Pluspunkt: Wer möchte, kann also direkt an die vielfältigen benannten Quellen gehen, und Bells Argumentation prüfen. Wie sehr hätte man sich dies in anderen Büchern über Genesis und Peter Gabriel gewünscht!
Der dritte Hauptteil betrachtet die Tournee, mit der Genesis The Lamb Lies Down On Broadway 1974 und 1975 auf die Bühne brachte. Nirgends wurde bisher so klar herausgearbeitet, was für ein geradezu wahnwitziges Risko es für Genesis war, mit einer Komplettaufführung des Albums auf Tour zu gehen. Die Bühnenshow wird vom Bühnenaufbau über die Beleuchtung und die Spezialeffekte bis hin zu den Diaprojektionen gewürdigt, wobei Bell auch auf technische Aspekte der Show-Entwicklung eingeht. Eingeleitet von einer Aufstellung der Konzerte der einzelnen Tourabschnitte (Nordamerika, Europa, Großbritannien) stellt Bell dar, was sich im Vergleich zum vorigen geändert hat und berichtet von den bekannten Kuriositäten. Auch hier fördert er aber noch neue Details zutage, beispielsweise zu dem „Konzert mit dem großen Knalleffekt“ in Oslo.
Eingewoben in dieses Kapitel ist das für die Bandgeschichte folgenreichste Ereignis der Tournee, nämlich Peter Gabriels Ankündigung, die Band zu verlassen. Diesem Ereignis und den durchschlagenden Folgen ist ein eigenes Kapitel gewidmet, das sich weniger mit der Entscheidung als solcher beschäftigt als damit, wie die Beteiligten damit umgehen, und notwendigerweise auch einen Blick über den zeitlichen Rahmen von The Lamb hinaus wirft.
Der letzte Abschnitt des Buches widmet sich der Rezeptionsgeschichte von The Lamb Lies Down On Broadway, von der erst allmählich einsetzenden Anerkennung als einem Höhepunkt des Progressive Rock bis zu den dann doch gescheiterten Plänen für eine Verfilmung. Bell begeht hier auch nicht den Fehler, die Wiederaufführungen beziehungsweise Neuaufnahmen ungenannt zu lassen. Neben (fast) „rein musikalischen“ Projekten wie Kevin Gilberts Livedarbietung oder Nick D’Virgilios Rewiring Genesis würdigt Bell auch Fan-Projekte wie Serge Morrissettes mit seiner beeindruckenden Rekonstruktion einer Lamb-Films anhand von erhaltenen Filmschnipseln aus allen möglichen Quellen. Neben anderen Cover- und Tribute-Bands wird natürlich besonders darauf eingegangen, dass die kanadische Band The Musical Box mit offiziellem Segen von Genesis eine unfassbar genaue und überwältigende Aufführung nicht nur der Musik, sondern der kompletten Show auf die Bühne bringt.
Im Nachwort geht der Autor, ganz Historiker, darauf ein, warum die Beteiligten – Musiker, Roadies, Manager, Fans – unvermeidlich ganz unterschiedlich auf ihre Zeit mit The Lamb Lies Down On Broadway zurückblicken, bevor er resümierend den Bandmitgliedern gleichsam das Schlusswort gibt, in dem eine eher zwiespältige Haltung zum Album zum Ausdruck kommt.
The Lamb Lies Down On Broadway ist, wie immer wieder anklingt, nur der erste Teil einer größer angelegten Reihe, in der, so die Andeutungen, mindestens drei oder vier weitere Alben von Genesis besprochen werden. Es betrachtet das Album in seiner komplexen Vor- und Entstehungsgeschichte, seiner Existenz als Studioalbum und als Live-Darbietung und schließlich auch in seinem Nach- und Wiederaufleben. Den roten Faden bildet dabei die These von The Lamb als verschlüsseltes Abbild von Peter Gabriels psychischer Befindlichkeit. Das Buch liest sich flüssig, wenn auch der Autor bisweilen einer leichten Neigung zu verschachtelten Sätzen nachgibt. Angenehm war auch, dass in den späteren Kapiteln die Anzahl sensationalistischer Adjektive wie „mysteriös“ einer nüchterneren Ausdrucksweise weicht.
Um einen Satz aus dem Epilog (S.434) zu variieren: Mit The Lamb hat Bell in verschiedener Hinsicht einen hohen Standard gesetzt. The Lamb Lies Down On Broadway von Mark Bell wird der neue Maßstab sein, an dem sich andere Bücher über Genesis messen lassen müssen – hinsichtlich der Interpretationstiefe, der Fülle (und Nennung!) der Belege und der Durchgängigkeit des Blickwinkels. Wer „bis heute noch nicht verstanden hat, worum es in The Lamb geht“, bekommt hier eine mögliche Erklärung. Mit diesem Buch (und ergänzend denen von Giammetti und Holm-Hudson) hat der Leser erstmal alles, was er über The Lamb braucht.
Dezember 2022 | Martin Klinkhardt
Das Buch ist exlusiv bei amazon erhältlich (bis Ende Dezember 2022 zum Einführungspreis)
Zum Autor:
Mark Bell hat sich als Fan intensiv mit The Lamb Lies Down On Broadway, der Begleitgeschichte und den Wiederaufführungen durch The Musical Box beschäftigt. Dabei wurde sein Bedürfnis immer stärker, ein deutschsprachiges Buch zu finden, das ihm hilft, die hinter dem Hör- und Sichtbaren immer wieder aufscheinenden Tiefen des Werkes auszuloten. Solch ein Buch gab es bislang nicht, und er konnte auch niemanden bewegen, das Buch für ihn zu schreiben. Also hat er es selbst geschrieben. Dr. Mark Bell hat in Geschichte und Kulturwissenschaften promoviert.