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Genesis – Live Over Europe – Rezension

Schon bald nach dem Ende der Nordamerika-Tour veröffentlichten Genesis das Live-Doppelalbum Live Over Europe.

Nur wenige Wochen nachdem in Los Angeles die letzten Noten der Turn It On Again Tour verklungen waren, veröffentlichten Genesis nun das dazugehörige Live-Doppelalbum. Und ganz im Stile der Bühnenshow heißt es auch hier: Nicht kleckern, sondern klotzen.

Das Album kommt sehr edel in Mattschwarz und Silbergrau daher; das Cover zeigt das CAD-Modell der Bühne mit aufgezogenen Netzen. Dieses Motiv wiederholt sich auf dem Kartonschuber, der das Jewelcase umgibt. Auf der Rückseite der CD-Hülle findet sich eine kleine Überraschung; dort werden Daryl Stuermer und Chester Thompson unter der Überschrift „Genesis are“ gleichsam von Tourmusikern zu Bandmitgliedern befördert.

Das 20 Seiten starke Booklet bietet auf jeweils einer Doppelseite Bühnentotalen von den visuellen Höhepunkten der Show, unter anderem den Läufer hinter den Gitterstäben (aus dem Cage Medley), die wie suchende Augen wirkenden Scheinwerfer aus dem Second Home By The Sea und – auf opulenten vier Seiten in der Mitte zum Ausklappen – die fallenden Steine aus The Last Domino. Solcherart auf den Musikgenuss eingestimmt drückt der Verfasser auf die Play-Taste und…

… wird wie auf den Konzerten von dem wuchtigen Beginn des Duke’s Intro an die Wand gedrückt. Ohja, kein Wischiwaschi, hier sitzt Druck hinter! Nick Davis hat wirklich ganze Arbeit geleistet. Es ist wieder beinahe wie im Stadion, nur der Regen und die Zehntausende anderer jubelnder Fans fehlen. Hören kann man sie aber, die Fans, und das muß auch so sein. Nichts ist schlimmer als diese sogenannten Livealben, denen mit allen technischen Tricks die Begeisterung der Zuschauer entzogen wird. Hier ist das anders: Die Fans sind dabei, zwischen den Stücken und in den Stücken hört man sie, wo es angemessen ist, kräftig mitsingen.

Genesis Live Over Europe 2CD

Welche Stücke haben es denn aus dem Konzert auf die CDs geschafft? Das ist die zweite erfreuliche Überraschung: Alle Stücke sind dabei, und zwar in derselben Reihenfolge wie beim Konzert. Vom Duke Intro bis zu den Carpet Crawlers sind alle dabei, die heißgeliebten Klassiker(medleys) á la Cage und Ripples für die „alten“ Fans genauso wie die Kracher für die Freunde der Welthitjahre und die Stücke, zu denen sich die Pärchen im Publikum verliebt aneinander schmiegten (während andere Bier holen oder wegbringen gingen).

Ein komplettes Konzert also. Wo ist denn da der Unterschied zu der Encore Series? Der liegt vor allem in drei Dingen. Zum ersten ist es nicht ein einzelnes Konzert, das auf Live Over Europe zu hören ist. Nick Davis hat Aufnahmen von allen Europakonzerten gesichtet und für jedes Stück die beste Aufnahme ausgewählt. So ist Genesis hier wortwörtlich „live querbeet in Europa“ zu hören; von der Tourpremiere in Helsinki bis zum grandiosen Finale vor einer halben Million Fans im Circus Maximus in Rom sind insgesamt zwölf Spielorte auf diesem Livealbum vertreten, wobei ein gutes Viertel der Stücke aus Manchester kommt.

Nick Davis hat Live Over Europe mit viel Liebe und Sorgfalt auf akustischen Hochglanz poliert. Lange hat der Verfasser keinen so klaren Sound auf einem Livealbum gehört, hier ist jedes Instrument klar zu hören, ohne sich auf Kosten des Gesamtklanges in den Vordergrund zu drängen. Und in einer Zeit, in der vielen Hörern wegen der 5.1-Möglichkeiten der alte Stereosound zu flach klingt, ist hier ein angenehm offener Stereosound geglückt.

Zwei Dinge fehlen dem Livealbum gegenüber dem vollständigen Konzert: Aus I Know What I Like wurden die gut eineinhalb Minuten herausgeschnitten, in denen Phil die Tambourintarantella tanzt und das „Klatsch-Spielchen“ mit dem Publikum spielt. Außerdem fehlen die Ansagen zwischen den Stücken. Beides hat Nick Davis allerdings geschickt kaschiert. Ob Phils launige Bemerkungen über die Niederschlagsmenge wirklich auf ein Livealbum gehören oder ob die Schilderung des „Paradieses der Unschuld“ unbedingt sein muss (und wenn, in welcher Sprache?), darüber kann man geteilter Meinung sein. Der Verfasser findet, dass derlei zwar auf der DVD sein sollte, auf einer Live-CD jedoch verzichtbar ist.

Ein weiterer kleiner Wermutstropfen wäre dann noch zu erwähnen: der Titel. Für die nordamerikanischen Fans stellt er eine gewisse Ausgrenzung dar. Natürlich wurde alles auf dem Album in Europa aufgenommen, insofern hat der Titel schon seine Berechtigung, aber die Setliste war ja in Nordamerika dieselbe… oder hatte da mal jemand eine Live Over North America angedacht?

Live Over Europe bietet mehr als zwei Stunden erstklassige Livemusik in hervorragendem Sound mit kräftigem Livegefühl – in einer stilvoll eleganten Verpackung. Eine Augenweide und ein großer Hörgenuss. Auch wer schon „seine“ Encore hat, wird an Live Over Europe mindestens genauso viel Freude haben.

Tracklist (in Klammern das Konzert, bei dem das Stück aufgezeichnet wurde):

CD 1:

Duke’s Intro (Manchester)
Turn It On Again (Amsterdam)
No Son Of Mine (Amsterdam)
Land Of Confusion (Helsinki)
In The Cage mit Teilen von The Cinema Show und Duke’s Travels (Manchester)
Afterglow (Manchester)
Hold On My Heart (Hannover)
Home By The Sea (Düsseldorf und Rom)
Follow You, Follow Me (Paris)
Firth Of Fifth (Ausschnitt) (Manchester)
I Know What I Like (In Your Wardrobe) (Manchester)

    CD2:

    Mama (Frankfurt/Main)
    Ripples (Prag)
    Throwing It All Away (Paris)
    Domino (Rom)
    Conversations With 2 Stools (Schlagzeugduett) (München)
    Los Endos (Twickenham)
    Tonight Tonight Tonight (Ausschnitt) (Rom)
    Invisible Touch (Rom)
    I Can’t Dance (München)
    Carpet Crawlers (Manchester)

    Autor: Martin Klinkhardt