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Genesis – In Our Flight Of Fancy (Maurizio Vicedomini et al.) – Buch Rezension
Drei Fotografen und passionierte Genesis-Fans veröffentlichen im Oktober 2010 einen liebevoll gestalteten Bildband mit Fotos, die sich auf Text(teil)e von Genesis-Stücken beziehen.
Bei Peter Handke ist das Dilemma des Torwarts angesichts eines Elfmeterschützen beschrieben: Soll er springen? Nach links oder rechts, hoch oder tief, weit oder kurz? Handkes Tormann bleibt einfach stehen – und kann so den Schuss parieren. Der Herausgeber eines Bildbandes steht vor einem ganz ähnlichen Problem. Er möchte ein bestimmtes Thema darstellen, und weil der Platz auch in einem großformatigen Buch beschränkt ist, muss er eine Auswahl treffen. Soll er beispielsweise römische Baukunst in der Totale zeigen oder eher Detailaufnahmen? Die Zusammenstellung der Bilder ist notwendigerweise willkürlich; sie richtet sich nach dem Gefühl des Herausgebers. Er muss auf seinen Geschmack vertrauen und hoffen, dass seine Auswahl die richtige ist. Wie der Torwart in Handkes Erzählung hat er nur eine kleine Chance, den Ball zu erwischen, also den Geschmack des Publikums zu treffen. Für die meisten Bildbände ist es dann ein Gewinn, wenn der Autor erhobenen Hauptes seine persönliche Auswahl präsentiert. Sie wird auch dann nicht jedem gefallen – aber sie ist stimmig und authentisch.
Auf dem Tisch vor mir liegt nun der neue Bildband Genesis – In Our Flight Of Fancy, was im Deutschen mit „Genesis in den Höhenflügen unserer Vorstellungskraft“ nur sehr unzureichend wiedergegeben ist. Der poetische Klappentext beschreibt das Buch „Hommage nicht nur an die Musik und die Texte von Genesis, sondern auch an ihre Bedeutung im Leben der Verfasser.“ Das stimmt skeptisch, denn wie könnte der eine nachvollziehen, was der andere bei einem Musikstück fühlt? Wir werden sehen. Das Umschlagfoto jedenfalls verspricht hochwertige Fotografien. Das große Format (30x30cm) trägt dazu bei, die Bilder auf dem schweren Mattglanzpapier gut wirken zu lassen.
Vorworte sind gewissermaßen die Ouvertüren eines Bildbandes. Zunächst bezeichnet ein Professor für Kunstgeschichte die Fotografen als „Hofnarren, die die Musik von Genesis mit Bildern einer magischen, mystischen Welt herbeirufen“; er hat auch lobende Worte für den Grafikdesigner und dessen Buchlayout, „in dem das kleinste Detail einen Sinn hat und jedes Wort seine Bedeutung betont“. Mario Giammetti, der Chef des italienischen Genesis-Fanclubs Dusk, fügt eine weitere Stimme ein und zeigt in treffenden Worten, was Genesis-Fans aller Lebensläufe miteinander verbindet. Steve Hackett lobt die Bilder in einer handschriftlichen Notiz, die auf einer Seite reproduziert ist, als Meisterstücke, die das Wesen der Genesistexte einfingen. Die eigentliche Einleitung gibt der Layouter des Buches, Daniel Klöckner: „Ich hoffe, dass ihr […] jenen Punkt in euch erreichen könnt, an dem ihr wahrnehmt, ohne zu denken, an dem ihr es einfach auf euch wirken lasst.“
Nach dem Umblättern zur ersten Kombination von Bild und Text ist der Rezensent angenehm überrascht: Die Bilder sind zwar ein echter Blickfang, aber nicht das dominierende Element auf der Doppelseite. Es gibt nicht das eine zentrale Element, dem alle anderen untergeordnet sind; Bildfläche und Textfläche stehen in einem fein austarierten Gleichgewicht. Ein Übergewicht des einen würde nicht nur dem anderen, sondern der Gesamtwirkung schaden. Jede Doppelseite hat ihr eigenes Layout, das Schema F (zentriertes Bild mit kleinem schwarzem Text in einer Bildecke) wird sorgfältig vermieden. Die Bilder sind auf jeder Seite anders positioniert. Für die Texte wird zwar durchgängig dieselbe Schriftart verwendet, jedoch sind die Schriftgrößen, -farben und –formen jeweils verschieden. Mal folgen sie einem Bogen, der bereits im Foto begonnen hat, mal sind sie über die Seite drapiert, als wollte ein Redner die Sprechpausen visuell wiedergeben; oft sind einzelne Wörter oder Zeilen in anderen Farben wiedergegeben und stellen damit einen neuen Sinn in dem Text her. Hier hat der Grafikdesigner Daniel Klöckner ganz hervorragende Arbeit geleistet.
Die Überraschung ist noch aus einem weiteren Grund erfreulich: Schon die erste Kombination von Bild und Text ist stark genug, dass der Betrachter seine eigenen Vorstellungen hintanstellen und sich auf die Bezüge einlassen kann, die Text und Bilder zueinander herstellen. Die Bilder bedienen fast nie konventionelle Bilderwartungen; die erste Paarung zitiert einige Zeilen aus Squonk, das Foto dazu zeigt allerdings keineswegs ein putziges Fabeltier, sondern eine rauhere Wirklichkeit. Die Bezüge zwischen Text und Bildern sind deutlich, aber nie trivial offensichtlich. Sie fordern den Leser auf, nicht nur zu sehen, sondern auch aktiv die Zusammenhänge zu entdecken: Aus Bildern und Texten werden Denk-Anstöße.
Die Textauszüge im Buch stammen aus Stücken, die auf den Studioalben von A Trick Of The Tail bis einschließlich Calling All Stations erschienen sind. Manche Stücke wurden dabei mehrfach aufgegriffen, andere wiederum ausgelassen. Insgesamt ist jedes Album (außer Calling All Stations, Abacab und dem Mama-Album) rund achtmal vertreten. Es gibt auch keinen Hit-Proporz in Bezug auf die einzelnen Stücke. Stücke von vor 1976 sind nicht vertreten, weil es sonst offenbar erheblich länger gedauert hätte, die von den Autoren gewünschte wohlwollende Freigabe für die Verwendung der Texte von Genesis zu erhalten. Sicherlich wäre es sehr spannend gewesen zu sehen, welchen fotografischen Ausdruck die Autoren für die bizarreren Texte der Gabriel-Ära gefunden haben. Andererseits hätten für Bilder zu früheren Texten möglicherweise andere Bilder entfallen müssen, die jetzt das Buch zieren. Vielleicht wird es ja einen zweiten Band geben.
Selbst wenn man die bizarren Geschichten der Ära Gabriel ausklammert, so haftet den Texten von Genesis doch der Ruf an, dass sie nur selten etwas mit „der Wirklichkeit“ zu tun hätten. Außer mit Liebesglück und Liebesleid beschäftigen sich die Texte häufig mit erfundenen oder lang zurückliegenden Historien (Eleventh Earl Of Mar), seltsamen Tiergeschichten (Squonk, All In A Mouse’s Night) oder unheimlichen Begegnungen der dritten Art (Keep It Dark). Die Bilder in diesem Buch holen die Geschichten aus der Fiktion in die Realität zurück – oder umgekehrt. So steht einerseits die erste Strophe von One For The Vine neben dem Bild eines Soldatenfriedhofs, andererseits eine Braut wie eine Geisterscheinung vor einem Haus am Meer (zu Second Home By The Sea). Die Texte und Bilder sind mit sicherer Hand zusammengestellt; sie zielen nie auf einen billigen Knalleffekt, sondern fordern die geistige Auseinandersetzung damit. Das ist keine schwierige Aufgabe und steigert sogar noch das Vergnügen am Buch.
Drei Bild-Text-Paarungen in diesem Band schaffen es allerdings nicht, den Betrachter in ihren Kontext zu locken. Die Motive zu den Auszügen aus Mama und einem der Entangled-Zitate sind im Genesis-Kanon bereits anderweitig besetzt, und während das Bild zu In That Quiet Earth zwar sehr gut passt, kann man sich doch nicht freimachen von dem Gedanken, dass „das doch genau aussieht wie …“.
Die allermeisten Bilder zeigen, was der Fotograf vor der Linse hatte. Bisweilen sind die Bilder natürlich gestellt, woran nichts weiter auszusetzen ist. Einige wenige Fotos allerdings wurden durch Montagen verändert, und zwar so offensichtlich, dass es die Gesamtwirkung des Bildes stört. Da alle anderen Fotografien so hervorragende Qualität haben, muss man wohl davon ausgehen, dass die Manipulationen erkennbar bleiben sollten, dass die verstörende Wirkung beabsichtigt ist.
Ein gutes Buch führt den Leser am Ende wieder aus dem Text heraus. Manche Bildbände nehmen das Problem nicht ernst und verabschieden den Leser mit der lapidaren Erkenntnis, dass die Bilder alle sind. Im vorliegenden Buch ist diese Verabschiedung ganz hervorragend gelöst. Es sei nur so viel verraten: Guide Vocal leitet den Schluss ein. Man achte auf den Text – und dann darauf, welche Texte die Bilder auf den darauffolgenden Seiten begleiten. Ganz am Ende steht noch einmal der Auftrag, den das Buch dem Leser erteilt: „Better think awhile.“
Im Anhang findet sich der Nachweis, welche Texte woher stammen. Schön wäre es auch gewesen, wenn man auch hinzugesetzt hätte, wo die Aufnahmen gemacht wurden – die Wirkung beispielsweise des Bildes zu „Go West young man“ potenziert sich, wenn man (aus einem der Vorworte) weiß, dass dies kein x-beliebiger Strand ist.
Mit Genesis In Our Flight Of Fancy nehmen uns die Fotografen Maurizio und Angela Vicedomini, Salvo Zannelli und der Designer Daniel Klöckner mit auf eine Reise durch die Texte von Genesis und zeigen uns ihre Sichtweise. Es sind ganz neue Blickwinkel und kühne Assoziationen, die uns hier geboten werden. Wenn man doch auch eigene Bilder im Kopf hat, so steht doch fest: Was hier vorgelegt wird, ist stimmig, nachvollziehbar, fühlbar. Wie auch immer man die Texte interpretieren möchte, so liegt hier doch ein Bildband vor, der eine ganze Reihe außergewöhnlich gelungener und oft auch schöner, von Genesis‘ Songtexten inspirierter Fotografien bietet. Genesis In Our Flight Of Fancy ist eine persönliche und sehr schöne Hommage an die Texte von Genesis.
Autor: Martin Klinkhardt