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Genesis – Genesis / Shapes – Rezension

Das Album, welches Genesis zudem noch zur richtigen Stadion-Band gemacht hat, war Genesis aus dem Jahr 1983. Mehr Abstand von progressiven Nummern, aber diese nicht komplett ausschließen. Als Konsequenz schienen Banks, Rutherford und Collins immer besser beim Komponieren von kürzeren Stücken zu werden.

Die Band Genesis polarisiert. Auch oder gerade unter den Fans. Das ist nichts Neues und das war wahrscheinlich schon immer so. Es gibt Momente in der Bandgeschichte, an denen Fans gerne meckern. So ist ein beliebter Kritikpunkt die Tatsache, dass die Band plötzlich finanziell Erfolg hatte. Wie konnten sie nur?

Das Album, welches Genesis zudem noch zur richtigen Stadion-Band gemacht hat, war Genesis aus dem Jahr 1983. Zwar hatte die Band bis dahin schon einige kleine Erfolge zu verzeichnen mit den Liedern I Know What I Like, Follow You, Follow Me oder Misunderstanding, aber es war die Ära des Albums Genesis, die den endgültigen Durchbruch darstellt. Lag das an der Musik des Albums oder einfach nur an der Tatsache, dass Genesis in dieser Zeit einfach „in“ war?

Vielleicht lag es auch an Phil Collins’ stetig steigenden Bekanntheitsgrad durch seine Soloalben. Vielleicht waren die Fans aber auch einfach nur froh, dass Abacab, vielleicht Genesis’ experimentellste Phase,  überstanden war. Aber nichtsdestotrotz blieb die Richtung, die Abacab vorgab, im Kern ähnlich: Mehr Abstand von progressiven Nummern, aber diese nicht komplett ausschließen. Als Konsequenz schienen Banks, Rutherford und Collins immer besser beim Komponieren von kürzeren Stücken zu werden. In einer Sache wandte man sich von einer älteren Entwicklung ab: Vor Genesis kamen vereinzelte Solo-Kompositionen auf die Alben. Grund hierfür waren sicherlich die Solo-Karrieren der einzelnen Künstler. Das Album Genesis repräsentiert die Rückkehr zur absoluten Gruppenarbeit, ergo der Album-Titel Genesis. Zugleich sollte Genesis das erste Album sein, welches komplett im bandeigenen Studio „The Farm“ aufgenommen wurde. Mit dieser neuen Einstellung zur Musik und in dieser neuen Umgebung entstand das Genesis-Album.     

Allein der Anfang ist markant: Ein ungewöhnlicher Drum-Computer Rhythmus, programmiert von Mike. Die ungewöhnliche Betonung auf dem Off-Beat, der etwas muffige, leicht unterdrückt wirkende Klang und die wenig später folgenden Klänge von Banks’ Keyboard sorgen für die dunkle Grundstimmung, die das ganze Stück dominieren soll. Was jedoch als relativ simples Lied beginnt, entwickelt sich in den nächsten Minuten zu einem dichten, aggressiven und spannungsgeladenen Lied über eine Obsession eines Jungen mit einer Prostituierten. Nicht gerade ein Genesis-typischer Inhalt. Genauso untypisch ist Phils markante Lache, welche, inspiriert durch ein Rap-Lied von Grandmaster Flash, Mama so berühmt und besonders macht. Dass es gerade dieses Lied war, welches Genesis einen großen Charterfolg in Europa bescherte, scheint verwunderlich.

Doch schon bei Mama wird deutlich, wie sehr sich Phils Stimme über die Jahre gewandelt hat. Mama gilt als eine der besten Gesangsleistungen Collins’. Doch nicht nur dort wirkt seine Stimme prägnanter. Dem düsteren Überlied folgt ein eher locker-fröhliches und tanzkompatibles That’s All, ein auf einem netten Klavier-Riff basierendes Lied über eine Beziehung, die einfach nicht funktionieren will. Zwar kauft man Collins solche Themen eh ab, doch sein Gesang steigert sich von einem anfangs eher leicht ironischen Ton, über bissigen Zynismus bis hin zu einem richtig aggressiven Schreien. Dazu bietet die Musik weiterhin als Kontrapunkt die fröhliche Melodie.

Diejenigen, die That’s All als zu Collins-lastig empfinden mögen, werden mit Home By The Sea wieder versöhnt, einem mystischen Grusellied, welches mit elf Minuten Länge, wenn man das (fast) instrumentale Second Home By The Sea dazuzählt, durchaus progressive Momente enthält, nicht nur der Länge wegen. Dominierend im zweiten Teil des Liedes sind zudem die ersten elektronischen Drums (Simmons) auf einem Genesis-Album. Sie geben das kraftvolle Rhythmus-Gerüst des instrumentalen Teils an.

Nach Second Home By The Sea endet die erste Hälfte des Albums, die eindeutig die dominierendere Seite darstellt. Die zweite Hälfte besteht aus fünf Pop- und Rockliedern, welche schnell mal in Vergessenheit geraten können; teilweise zu Unrecht: Illegal Alien, ein ironischer Blick auf illegale Einwanderer mexikanischer Abstammung, die sich ein besseres Leben in den USA erhoffen, ist immer noch ein beliebtes Radio-Lied trotz oder gerade wegen Collins’ augenzwinkernde Art, mit Akzent zu singen. Taking It All Too Hard ist die Herzschmerz-Ballade dieses Albums, doch bietet sie einen exzellenten Drum-Sound. It’s Gonna Get Better, der Versuch, gesellschaftskritisch zu klingen, sorgte während der MamaTour vielleicht für eine erhebende Stimmung, doch auf dem Album entwickelt es nicht diese Kraft. Gerade wenn Collins Falsett singt, ist vielleicht doch die Schmerzgrenze erreicht.

Just a Job To Do wiederum ist eine kleine Geschichte, diesmal die eines Dick Tracy-Charakters, unterlegt mit einem Funk-artigen Beat. Etwas verwirrend wirkt, damals wie heute, Silver Rainbow. Musikalisch interessant, erneut mit deutlichem Einsatz der Simmons-Drums, und ursprünglich von Banks als Teil von etwas Größeren gesehen, bleibt es dann doch bei einem Vier-Minuten-Lied über erste sexuelle Erfahrungen. Vielleicht ist der Junge aus dem ersten Lied ja über seine Obsession mit der Prostituierten hinweg gekommen? Hier lohnt es sich als Zuhörer, mal nicht so genau hinzuhören.

Man mag bei einigen textlichen Inhalten vielleicht nicht so ganz einverstanden sein, musikalisch allerdings bietet das Album Genesis Qualität: Phils Stimme ist Anfang der 80er auf ihrem Höhepunkt: Voluminös und facettenreich: gefühlvoll singt er bei Taking It All Too Hard, aggressiv bei Mama, ironisch mexikanisch bei Illegal Alien, mystisch bei Home By The Sea. Mike freundet sich immer mehr mit seiner Rolle als Leadgitarrist an und Tony Banks bietet mit seinen Keyboard-Klängen wie so oft das, was den Genesis-Sound ausmacht. Alles vielleicht ein bisschen simpler als auf den früheren Alben, aber nicht unbedingt einfallslos.

Fazit

Zusammengefasst bietet das Album Genesis ein interessantes Potpourri an verschiedenen Musikstilen und Inhalten. Haben sich Genesis in den frühen Siebzigern noch sehr ernst genommen, wirken sie 1983 schon viel gelassener. So zeigt das integrierte Bandfoto die Jungs als klischeehafte Mexiko-Auswanderer, komplett mit Schnurrbart und schmierigen Haaren. Auch das Cover des Albums zeugt nicht von Ernsthaftigkeit, sondern, sind wir mal ehrlich, von Einfallslosigkeit: Gelbe Formen (ergo auch der Kosename Shapes für das Album), die an Förmchen und Bauklötze erinnern, leicht unscharf vor schwarzem Hintergrund.

Das Album hat viele Fans. Auch Mike Rutherford erklärt gerne, wie sehr er das Album mag. Doch kann das nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Genesis-Maschinerie unweigerlich auf einem Weg war, den immer weniger langjährige Fans duldeten. Auch wenn es gut produzierte Musik ist, so ist es doch größtenteils radiotaugliche Musik. Die Tatsache, dass vier Lieder als Singles ausgekoppelt wurden (Mama, That’s All, Illegal Alien und Taking It All Too Hard) unterstreicht das. Nichtsdestotrotz hat das Album sicherlich eine Daseinsberechtigung, schon allein wegen Mama. Nicht umsonst wird das Album, auch Band-intern, das „Mama-Album“ genannt. Home By The Sea entwickelte sich außerdem zum Live-Klassiker, wo es, besonders der instrumentale Teil, noch aggressiver und somit viel intensiver rüberkommt Ja, Genesis wurden radiofreundlicher. Aber eine Pop-Steigerung war immer noch drin, doch die kam erst drei Jahre später. Genesis ist und bleibt ein überzeugendes Rock- und Popalbum mit leicht progressiven Einflüssen. Schämen muss man sich jedenfalls nicht, wenn man es besitzt und sogar auch gerne hört.

Autor: Simon Rosenberg

weitere Links:

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