1. Artikel
  2. Lesezeit ca. 60 Minuten

Genesis – From Genesis To Revelation: Eine Neubewertung zum 50. Jubiläum

Im März 2019 jährt sich die Veröffentlichung des Debüt-Albums von Genesis zum 50. Mal. Grund genug, das Album aus heutiger Sicht neu zu bewerten. Der Artikel stammt von Andy Thomas und erschien urspünglich auf Anthony Phillips offizieller Website in Englischer Sprache.

Prolog: Die Welt im Jahre 1969

Richard Nixon wird US-Präsident – Die Concorde unternimmt ihren ersten Testflug – John Lennon heiratet Yoko Ono – Studentenrevolte in Harvard – Die Stonewall-Unruhen bilden den Startpunkt der Bewegung für die Rechte von Schwulen und Lesben – Brian Jones, Leadgitarrist der Rolling Stones, ertrinkt – Apollo 11 landet auf dem Mond – Charles Manson und seine Anhänger führen ihre Mordserie durch – Großbritannien stationiert Truppen in Nordirland – Woodstock findet statt – die erste Folge von Monty Python’s Flying Circus wird gesendet – in England wird das Fernsehprogramm erstmals in Farbe ausgestrahlt – Gewaltausbrüche bei einem Konzert in Altamont, Kalifornien

Wichtige Albumveröffentlichungen des Jahres: Led Zeppelin: Led Zeppelin und Led Zeppelin II– MC5: Kick Out The Jams – The Velvet Underground: The Velvet Underground – Sly & The Family Stone: Stand! – The Who: Tommy– Crosby, Stills & Nash: Crosby, Stills & Nash – Procol Harum: A Salty Dog – Yes: Yes– The Beatles: Abbey Road – King Crimson: In The Court Of The Crimson King – The Rolling Stones: Let It Bleed – Deep Purple: Concerto for Group and Orchestra

… und dann auch From Genesis To Revelation, von einer unbekannten Band, die, wenn man nach der Plattenhülle geht, nicht einmal einen Namen hat. Und doch kündet das Album, das am 7. März 1969 erschien, vom Anfang einer einzigartigen und außergewöhnlichen Karriere.

Die Genesis von Genesis

Mitte der 60er Jahre musste die englische Privatschule Charterhouse in Godalming, Surrey, erkennen, dass es sich gegen den gewaltigen kulturellen Wandel nicht abschotten konnte, der um sie herum gerade stattfand. In ihrer Freizeit fangen die Schüler an, Popmusik zu spielen und sich gegen die Unterdrückung durch die Institution aufzulehnen. Zwei “Gruppen” in Charterhouse kamen allmählich zum Vorschein: Anon (mit dem Gitarristen Anthony Phillips und dem Gitarristen und Bassisten Mike Rutherford) und Garden Wall (mit dem Sänger Peter Gabriel und dem Pianisten Anthony Banks). Die beiden Gruppen fanden sich mit dem Schlagzeuger Chris Stewart allmählich zu einem Kollektiv von Songschreibern zusammen und machten den Charterhouse-Absolventen Jonathan King auf sich aufmerksam, als dieser, inzwischen ein Popstar und Produzent, der Schule einen Besuch abstattete.


1
Demos wechselten die Hände; Kings anfängliche Begeisterung (vor allem für Peter Gabriels Stimme) ließ nach, als ihn weitere Demos nicht so stark beeindruckten. Das geschickt gewählte Mittel eines Stückes mit Anklängen der Bee Gees, nämlich The Silent Sun, das darauf abzielte, das Interesse des Bee Gees-Fan King erneut zu entfachen, war erfolgreich. Nachdem sie zwei (erfolglose) Singles veröffentlicht hatten, kamen die jungen Leute zusammen, um ein Album einzuspielen, wobei sie Stewart durch John Silver als neuen Schlagzeuger ersetzten. King schlug ihnen als Leitthema vor, ungefähr die Geschichte der Bibel zu erzählen, und taufte die Band auf den Namen Genesis. Als sich zeigte, dass es in den USA schon eine Gruppe mit diesem Namen gab, hatte das zur Folge, dass auf dem Album nur der Albumtitel, aber kein Bandname stand: From Genesis To Revelation. Nach seinem Erscheinen 1969 verkaufte sich die Platte ein paar hundert mal und ging dann unter – bis es unzählige Male neu veröffentlicht wurden, nachdem die Band richtig erfolgreich geworden war. Man beschloss, den Namen der Band beizubehalten und fing an, eine Karriere ohne King ins Auge zu fassen.

Und was ist mit dem Album? Wie sollen wir heute, 50 Jahre später, an diesen zerbrechlichen und doch so entscheidenden Schritt dieser Band herangehen, der die Geschichte der Rockmusik gleichermaßen ändern und fortschreiben sollte? Ist es heute möglich, From Genesis To Revelation an und für sich neu einzuschätzen?

Das erste Album

From Genesis To Revelation ist das erste Genesis-Album. Auch wenn viele diesen Titel an Trespass geben, das erst 1970 erschien. Und doch wird vielfach sogar von Mitgliedern der Band unterstellt, dass dieses wichtige Debüt das Projekt eines Genesis-Vorläufers sein, damit nicht zum Albumkanon gehöre und eine Diskussion nicht wert sei. Das ist eine Schande. Damit leidet der Anfang der Studiokarriere von Genesis ungerechterweise unter derselben Behandlung, die auch Calling All Stations, das letzte Studioalbum der Band, immer wieder erdulden muss: Die Abwertung als verzichtbares Nebenprojekt. In Wirklichkeit sind diese beiden Alben wie die Deckel eines Buches: Lässt man sie außen vor, reißen sie klaffende Löcher in den Entwicklungsstammbaum von Genesis. Vor allem From Genesis To Revelation wird unklugerweise und zum Schaden des Gesamtoeuvres von Genesis übersehen.

Der niedrige Status des Albums hat sich durch die zahlreichen Wiederveröffentlichungen, die Johnathan Kings Firma über die Jahre autorisiert hat, nicht verbessert, zumal diese dann einen bunten Strauß verstümmelter Versionen hinter einer Reihe grotesker Cover verbergen, von denen die wenigsten der ursprünglichen, an Spinal Tap erinnernde, Covergestaltung ähneln, nämlich einer einfachen schwarzen Hülle mit dem Titel in Frakturschrift. Zusätzliche Stücke wurden meistens ganz vorne oder ganz hinten eingefügt, oder das Album wurde auf mehr als eine Platte verteilt, wobei die geschickten Verbindungsinstrumental oft furchtbar zerschnippelt wurden und die beabsichtigte Symmetrie des Hörerlebnisses stören.

Wie so viele, die über ihre Liebe für die Musik, die die Band Mitte bis Ende der 70er Jahre machten, in die Welt von Genesis gezogen worden, habe ich dieses Album mit der ersten Wiederveröffentlichung 1976 in den Decca Rock Roots entdeckt. Diese Reihe enthielt billige Compilations, die die frühen Alben von Bands umfassten, die später erfolgreich werden sollten. Das Album zeigte dass nun weit verbreitete Foto der jugendlichen Genesis: Phillips stellt sich bemüht in Post, Rutherford wirkt wie auf Drogen, die anderen schauen mürrisch drein. Damit setzte sich die Hülle von dem normalen Rock Roots-Cover ab, das einen alten Plattenspieler der Marke Dansette aus den 60ern zeigt, und wirkte noch viel viel älter, als ich die Band entdeckte. Obwohl die Musik damals noch keine zehn Jahre alt war, schien sie ein Relikt uralter Zeiten zu sein, etwas, das man neugierig erkundete, aber nicht notwendigerweise zum Vergnügen hörte. Dieser Eindruck durchzieht auch noch erstaunliche vierzig Jahre später den Eindruck, den viele Hörer von From Genesis To Revelation haben. Das ist schade, denn wenn es auch kein Meisterwerk ist, hat das Album doch viel Vergnügen zu bieten und weist voraus auf vieles, was noch kommen sollte.

Ein großer Schritt

Wie steht’s denn mit dem Hörerlebnis? Lasst euch nicht von den ablehnenden Stimmen einlullen: Unbestreitbar ist From Genesis To Revelation der bedeutsamste Schritt, den die Band je gewagt hat. Eine Gruppe von Schülern hat hier zum ersten Mal das große böse Musikgeschäft kennengelernt und erfahren, wie man mit Klängen im Studio einen Traum erschaffen kann. Obwohl diese ersten Schritte so wacklig waren, wie die ersten Schritte eines Babys immer sind, lernte Genesis daraus wertvolle Dinge, die ihnen später sehr nützlich sein würden. Musikalisch streute das Album zudem viele wichtige Samenkörner aus, die schon bald Blüten tragen sollten. Wenn man so tut, als gäbe es dieses Album nicht, verzerrt man die Geschichte und verliert die Gelegenheit, eine Reihe ansteckend melodischer Stücke zu hören, die stets ihren eigenen Charme haben.

Was an diesem Album – und den Demos und verworfenen Stücken aus der Zeit – besonders auffällt, ist, wie auffallend flügge Genesis bei ihrem Eintritt in die Welt schon sind. Stellenweise zwar noch so primitiv und naiv, wie man es erwarten darf, zeigen sie trotzdem ein beeindruckendes, fast schon anmaßendes Vertrauen in die Vision, die sie erschaffen. Das ist keine Haufen Küken, die nicht wissen, was sie wollen. Aus den Jahren, in denen sie alte Rhythm & Blues-Hits in irgendwelchen kalten Klassenzimmern in Charterhouse nachgespielt haben, hat die Band offensichtlich wertvolle Erkenntnisse über den Aufbau von Stücken und Spieltechniken gewonnen, die zwar immer noch vorsintflutlich, aber doch stark genug sind, dass sie einen größeren Wurf versuchen als sie schaffen können. Ein so fester Glaube an sich selbst überwindet alle Barrieren, und Genesis wurden Experten darin, ungeachtet der manchmal wütenden Gegnerschaft ihrer Kritiker weiterzumachen. Sicherlich haben sie sich selbst anfangs als Kollektiv von Songschreibern gesehen, deren Produkte von anderen gesungen werden sollten. Aber sie mussten ihre eigenen Herren werden. Nur so konnten sie die Ansprüche aus ihrer eigenen Überzeugung erfüllen. Fotos von den Aufnahmesessions zeigen junge Männer, die kaum fassen können, was für eine Gelegenheit ihnen geboten wird – aber sie wirken auch sehr entschlossen und ernsthaft bei der Arbeit. [1]

Was die Begabungen angehen, ist es zweifelsohne Gabriels Gesang, der am meisten Potential verheißt. Seine jugendliche Stimme ist warm und melodisch auf eine anziehende Art, die sie zu einem guten Teil verliert, als die Reife dem Sänger bald darauf seine etwas heisere und vertrautere melodramatische Stimme verleiht. Wenn Gabriel den Refrain von In The Wilderness und andere lebhafte Moment herausdonnert, blitzt einen Moment lang schon auf, was kommen wird, aber fürs Erste bleibt ein überwältigender Eindruck von honigsüßen Klängen und dem Selbstbewusstsein der späten Teenagerjahre, der sehr erfolgreich von der unbeholfenen Produktion ablenkt, die die Instrumente behindert. Jenseits von Jonathan Kings unglücklicher Vorliebe für männliche Jugend, die spätere Strafverfahren erhellen sollten, ist gut zu verstehen, warum es Gabriel war, den er auf den Demos am interessantesten fand.

Tony Banks ist unter den Instrumentalisten derjenige, der die Stücke zusammenhält. Er spielt durchwegs kompetent, wenn man mal von der gelegentlichen falschen Note absieht (in den ersten Takten der Einleitung zu Window beispielsweise), die aber auf einem Album, das binnen weniger Tage in den Sommerferien 1968 eingespielt wurde, unvermeidlich sind. [2]

Anthony Phillips entwickelt sich musikalisch noch, aber bei seinen seltenen Momenten im Vordergrund zeigt er einen zupackenden Stil; dadurch werden sie unterhaltsam und ermutigend, wenn sie nicht von den Streichern und Bläsern verdorben werden, die so viele dieser Momente beanspruchen. Phillips ist hier sozusagen noch verpuppt und darf über weiter Strecken des Albums nur herumschrammeln. Seine wahren, übergreifenden Fähigkeiten sollte der Schmetterling Anthony Phillips erst kurz und strahlend auf dem darauffolgenden Album, Trespass, zeigen. Aber er hat seine Momente, und die sind vielversprechend. Auch Mike Rutherfords eigene Talente sollten sich auch erst später enthüllen, aber wenn man den Bass in dem Produktionsbrei mal hören kann, erfüllt er seine Aufgabe ganz gut. Chris Stewart und John Silver wurden scheinbar beide weder von der Band noch von King besonders geschätzt Die Schlagzeugarbeit von Chris Stewart auf den Singles und John Silver auf dem Album beschränkt sich im Großen und Ganzen darauf, wie ein Metronom den Takt zu schlagen und einfachste Effekte zu trommeln. Laut King waren „weder Chris Stewart noch John Silver besonders gute Schlagzeuger. Das wussten sie auch. Im Endergebnis war das Schlagzeug dann weit nach hinten gemischt.“ [3] Tamburin und Shaker sorgen genauso oft für den Rhythmus wie das ganze Schlagzeug. Ein paar wenige (und meist verzerrte) Drumfills stechen heraus, aber für Genesis sollte es noch ein paar Alben dauern, bis die Percussion ihren angemessenen Rang in der Klangwelt einnahm.

Das Konzept


2
Wer sich abfällig über Genesis äußert, behauptet oft, dass die Band die ganzen 28 Jahre ihrer Albumkarriere immer nur Konzeptalben aufgenommen habe, aber die Geschichte der Studioalben von Genesis fängt in der Tat mit einem Konzeptalbum an. Das Konzept an sich – „absolut erbärmlich“, sagt Banks, vielleicht etwas harsch [4] – war eine clevere Idee, die wohl von King kam und eine ziemlich unverbundene Reise durch Themen und Szenen erlaubte, die die Entwicklung der Menschheit betrafen, wie sie in der Bibel festgehalten wurden; daher der Titel. Der Schwerpunkt liegt dabei ganz entschieden auf dem ersten Buch Mose, also dem Buch Genesis, womit der Namen der Band gerechtfertigt war, wenn er auch groteskerweise auf dem Album fehlte. Bei ehrlicher Betrachtung erschließt sich dieses Thema dem normalen Hörer nicht – trotz früher und offensichtlicher Bezugnahmen auf „neugeborene Welten“ und Schlangen. Wenn man den Ansatz aber kennt, gewinnt der leichtgewichtige Liederzyklus eine gewisse Schwerkraft hinzu. Das Ergebnis ist eine Sammlung von Liedern, die man gut mitsummen kann, attraktiven, zierlichen Popsongs von der Stange mit klugerweise nebulösen Texten, die man als ein großes Ganzes betrachten kann oder so, wie viele der Stücke geschrieben wurden: als einen Gemischtwarenladen von Jünglingen, die ihre ersten vorsichtigen Schritte taten, um die Welt der Rockmusik zu erobern. Ob nun so oder so, es ist eine ehrliche Erfahrung, die uns 43 reizende Minuten beschert. Die Hörer mussten noch fünf Jahre warten, bis Genesis mit The Lamb Lies Down On Broadway ihr erstes, einziges richtiges Konzeptalbum vorlegten, dessen zugrundeliegende Geschichte trotz aller Freude, die sie bereitet, zweifellos noch obskurer ist als die von From Genesis To Revelation.

Indem er diese biblischen Bilder überlagerte (die arg einfache Produktion lassen wir mal außer Acht), hatte King offensichtlich etwas entdeckt, dessen sich die Bandmitglieder selbst zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst waren: In ihrem Auftreten und ihrem musikalischen Ehrgeiz lag etwas, das einen größeren Rahmen brauchte als eine durchschnittliche Popband. Auch wenn King selbst offenbar nicht bereit war, die zugegebenermaßen noch unbewiesenen Talente seiner Protegés voll zur Geltung kommen zu lassen, Solos und lange Arrangements herausschnitt und alles mit leicht konsumierbarem Klang lackierte, so muss man ihm doch Respekt zollen dafür, dass er etwas Neues mit ihnen probierte und ihnen Mut für ein übergreifendes Thema machte, auch wenn die Band gerade nicht einmal einen Namen hatte. Nachdem alle Mitglieder, die nicht Gabriel hießen, Kings köstlich-verführerischen Vorschlag „Gabriel’s Angels“ als Bandnamen abgelehnt hatten – „Ich fand ihn gut!“, sagte Gabriel, „aber die anderen schienen das nicht so zu sehen“ [5] akzeptierten sie den Namen Genesis, nur um ihn wegen rechtlicher Themen aufgeben zu müssen, wie das unten angeführte Zitat belegt. Deshalb taucht nur der Albumtitel auf der Plattenhülle auf. Es gab keine Illustrationen, die auf den Inhalt hingewiesen hätten – im Nachhinein eine Sabotage an der Vermarktbarkeit, der die Platte mehr als ein rätselhaftes Projekt (ein Musical? Eine Compilation?) denn als das Produkt einer Band erscheinen ließ und die Musiker zur Namenlosigkeit verdammte. Indem sie den pseudo-intellektuellen Unfug vorwegnehmen, den Frankie Goes To Hollywood 15 später so zelebrierten, brüsten sich die die verschrobenen Bemerkungen auf der Rückseite sogar noch damit:

„Die Gruppe begann vor biblischen Jahrhunderten als Genesis. Aber das Schicksal griff ein, andere Gruppen wurden Genesis und wer waren wir schon, uns mit denen anzulegen. Also änderten wir unseren Namen in Amerika zu Revelation. Augenblicke später gab es eine weitere Revelation. Jetzt sind wir eine Gruppe ohne Namen, aber wir haben eine Platte und wollen sie dir geben, Name hin oder her.“

Die Legenden behaupten, dass das Album von einigen Plattenläden in die wenig nachgefragte Ecke mit religiöser Musik einsortiert wurde. Ob das nun stimmt oder nicht, diese obskure Neuerscheinung war, obschon gefällig, nicht dazu angetan, irgendjemanden über Nacht zum Star zu machen. Die Mitglieder von Genesis sind sich fast durchweg einig: Hätte sich die Platte tatsächlich gut verkauft, dann hätte ihre Karriere sicherlich niemals so stattgefunden, weil die bestehenden vertraglichen Verpflichtungen mit King sie wahrscheinlich so gehemmt hätten, dass sie ein vorübergehendes Pop-Phänomen von schwindender Attraktivität geworden wären. Das Universum sorgte in einer rätselhaft hilfreichen Weise für sie. Auch wenn er für seine für ihn so typischen, ihn selbst überhöhenden einleitenden Worte zum Reunion-Konzert in Milton Keynes (ohne Phillips) 1982 ausgebuht wurde und man berechtigte Vorbehalte angesichts der späteren Enthüllungen über seinen Charakter hegen mag, muss man doch anerkennen, dass King genau der Strippenzieher war, den die Band damals brauchte. Und er verschwand genau zum richtigen Zeitpunkt und ermöglichte es der Band, den entscheidenden nächsten Schritt in ihrer Entwicklung zu machen.

Im Zwielicht dieser gescheiterten Veröffentlichung scheint man einander gegenseitig gehen gelassen zu haben. Nach einer kurzen Phase, in der sich die Band nach außen hin auflöste, fand sich Genesis wieder zusammen, und King unternahm nichts dagegen. Er hatte der Gruppe wichtige Praxiserfahrungen und, was genauso wichtig war, einen Namen gegeben, der schlussendlich gar nicht so viele rechtliche Probleme mit sich brachte. Nur wenige Mitglieder von Genesis haben den Namen wirklich gemocht. Die Anklänge von hochgeistiger Herrlichkeit, die darin mitschwangen, sollten sie während der Power-Pop-Jahre im Mainstream noch verfolgen, aber da es keinen besseren Namen gab, blieb es dabei – und so wurde Rockgeschichte geschrieben.

Where The Sour Turns To Sweet

Wenden wir uns also dem Album selbst zu. Die Rockgeschichte fängt immer mit den Stücken an. Gelegentlich haben Bands gleich am Anfang einen großen Erfolg, während andere vor dem Erfolg ein paar Prototypen brauchen. From Genesis To Revelation ist zweifellos eine Ansammlung von Prototypen, von denen einige in Sackgassen führten, andere aber in die Zukunft. Die Platte beginnt mit einer beeindruckend launischen 60er-Jahre-Passage und verkündet dann „Where The Sour Turns To Sweet“. Groovendes Fingerschnipsen überlagern gedankenvolle Klavierakkorde und Gabriels rätselhaft direkte Aussagen („We need you with us; come and join us now“). Das ist effektiv und deutet an, dass hier jazzige und von der Norm abweichende Themen auftauchen werden – aber das täuscht. Abrupt endet das Stück. Nach einer dramatischen Pause geht es erneut los, und das wirkliche Angebot des Albums wird vorgestellt; Dur-Akkorde auf dem Klavier und geschrammelte Gitarre, über die Gabriels milder Gesang hinweggleitet. Genesis sollten sich niemals in die Gefilde des Jazz wagen; nur hier und in dem einigermaßen missglückten Experiment namens The Magic Of Time (einem Songdemo aus der Zeit mit einem rhythmischen Geplätscher wie von Dave Brubeck) kommt die Band auch nur in die Nähe des Jazz. Nur einmal noch hat Genesis später den Jazz zur Kenntnis genommen: in den bluesigen Saxophonklängen des sehr passend benannten Songs Run Out Of Time, dem letzten originalen Studiosong, den Genesis 1998 veröffentlichten.

Die einfachen, melodischen Verse von Where The Sour Turns To Sweet werden ein wenig ausgepolstert mit wortlosen Chorstimmen, die „ooh“ und „aah“ singen; sie scheinen direkt aus den hallenden Stimmen abgeleitet, die in Charterhouse in der Schulkapelle erklangen. Gabriel bestätigt diesen Einfluss: „Kirchenlieder waren ursprünglich der einzige Moment in Charterhouse, an dem Musik gemacht wurde… Die Orgel in der Kapelle war fantastisch und der Organist war großartig, wirklich exzellent. Alle standen auf und haben so laut wie möglich gesungen.“ [6] Diese vielschichtigen Harmonien waren zwar stellenweise etwas ungehobelt, aber sie glätten Passagen, die ohne sie recht leer und fade gewirkt hätten; sie wurden ebenso pflichtbewusst wie großzügig eingesetzt: in diesem Stück, auf dem ganzen Album und in den Demos, die in dieser Zeit entstanden. Der „Knabenchor-Effekt“ sollte bis zu Nursery Cryme (1971) eingesetzt werden und stellenweise noch länger, bevor die klangsatten Schichten des Mellotrons und von Synthesizern die Leerstellen anders füllten.

Wenn man sehr fantasievoll war, konnte man die einleitenden Textzeilen, die den Hörer zu der Geschichte einluden und die himmlischen Reiche andeuteten, die die Menschheit ins Leben riefen, auch als weitergehende Einladung betrachten, Genesis auf einer Reise zu begleiten, die viel länger sein sollte als irgendjemand hätte glauben können, als diese naiven Jungs mit großen Augen ihre erste Platte aufnahmen. Enttäuschenderweise wird das Fingerschnipsen am Anfang und am Ende des Songs nirgends wieder aufgegriffen, obwohl der Refrain die Akkorde unter den Schichten von euphorischen Streichern und Bläsern wiederholt.

Die Instrumentierung

Ach ja, die Streicher.

Für manche Leute gibt es einen Streitpunkt, der ihnen nicht erlaubt, dieses ansonsten so unproblematische Album zu genießen. Weil er seinen Schützlingen wohl nicht ganz zutraute, die himmlischen Höhen zu erreichen, die er sich vorstellte, engagierte King einen gewissen Arthur Greenslade (und Lou Warburton als Unterstützung). Greenslade war ein bekannter Dirigent und Arrangeur, der unter anderem an Shirley Basseys Goldfinger gearbeitet hatte, um die Abmischungen, die die Band (abgesehen von kleineren Ausschmückungen) für fertig hielt, hinterher nochmal zu verbessern. Da ihnen der volle Umfang dieser Ergänzungen nicht verdeutlicht wurde, war Genesis keineswegs glücklich über das Ergebnis – ungefähr so wie Paul McCartney an die Decke gegangen sein soll, als er Phil Spectors allzu üppige Überarbeitungen der berüchtigten Let It Be-Sessions hörte. Vor allem Anthony Phillips schäumte vor Wut, als er die endgültige Fassung von From Genesis To Revelation mit den Massen von Streichermotiven und Bläserfanfaren hörte, die alles zudeckten: „Ich stürmte aus dem Zimmer und musste mich erstmal zwei Stunden hinlegen. Das war ein unbeschreiblich elendes Gefühl, als ob meine ganze Welt gerade einstürzte.“ „Die Streicher waren ein großer Fehler… Wir hatten die Vorstellung von einer Streichergruppe mit warmem Klang; das wäre gut gewesen. Aber doch keine so dominante Melodie ohne Akkorde.“ [7]

Lassen wir Phillips‘ verständliches Gefühl, verraten worden zu sein, mal beiseite. Wie verdient ist die ätzende Boshaftigkeit, die den Streichern entgegenschlägt? Banks (der zusammen mit Gabriel das meiste Material für das Album geschrieben hatte) steht ihnen positiver gegenüber. In Wirklichkeit ist es, offen gesagt, so, dass der Glanz, den die Geigen verleihen, dem Album eine räumliche Qualität gibt, die es ohne Greenslades Eingriff nicht gegeben hätte, vor allem angesichts des miesen Sounds, mit dem die Band aufgenommen wurde. Die komprimierte und kratzige Dynamik, die bei besonders intensiven Passagen regelmäßig zu unerwünschten Verzerrungen führte, ist ein Element, das den Hörer verschreckt und sicherlich dazu beigetragen hat, dass das Album bei den Fans kaum wertgeschätzt wird. Wenn diese Stücke wenigstens so gut geklungen hätten wie die auf Trespass, könnte man From Genesis To Revelation ganz anders wahrnehmen. Die Streicher und Bläser, die offenbar sorgfältig aufgenommen wurden, suggerieren dem Hörer eine insgesamt bessere Klangqualität. Man hat immer mal wieder behauptet, der Klang der Band sei dadurch verdorben worden, dass man immer wieder die vier Tonspuren, auf denen sie aufgenommen worden waren, auf den einen dadurch völlig überfüllten Stereokanale zusammenkopiert habe, um Platz für Greenslade auf dem anderen Kanal zu schaffen. Aber weder die Abmischungen der Stücke ohne Streicher, wie man sie auf dem Genesis Archive 1967-1975 hören kann, noch die Mono-Abmischungen klingen wirklich besser. (Die Mono-Version wurde unabhängig von der Stereo-Version gemischt. Sie scheint weniger Echo auf Gabriels Stimme zu haben; Streicher und Bläser klingen leiser, die Songlängen sind leicht unterschiedlich, aber sonst klingen sie fast gleich). Einzelne Passagen zeigen, dass gute Aufnahmen möglich waren; man achte beispielsweise auf Gabriels unwahrscheinlich klare Stimme in A Winter’s Tale. Aber die hastigen Aufnahmen und das schmale Budget erlaubten für die Schallplatte nur den Standardklang, mit dem die nicht so herausragenden Künstler vorlieb nehmen mussten. Es ist ernüchternd, wenn man sich klarmacht, dass eine so ungehobelte Aufnahme wie diese im selben Jahr erschien wie der akustische Leckerbissen Abbey Road von den Beatles.

Ob man die Orchesterpartien nun mag oder nicht, sie sind jedenfalls gut gespielt, gut arrangiert und tun zumindest in meinen Ohren mehr für als gegen die Songs. Das Theater um die Streicher überdeckt oft die Feststellung, dass Streicher und Bläser vor allem auf der zweiten Seite der Platte oft sehr gute Wirkung erzielen. Dass es fast unmöglich ist, die Greenslade-freien Mixe zu hören, ohne dass das Gehirn die fehlenden Elemente wieder ergänzt (vor allem bei dem verfügbaren einfachen Mix von One Day) legt nahe, dass King richtig lag mit diesen stimmigen Ergänzungen. Where The Sour Turns To Sweet ist ein gutes Beispiel für ihren besten Einsatz. Es sagt auch sehr viel aus, dass Banks in den darauffolgenden Jahren recht ähnliche Streichermelodien mit dem Mellotron nachbildete (beispielsweise in Seven Stones von 1971). Leider sollte es zwölf Jahre dauern, bis Genesis mal wieder Bläser bei einem Stück einsetzten, und der Einsatz von Orchestermusikern blieb auf das Engagement von Streichern während ihrer Konzerte 1986 in Australien beschränkt. Abgesehen hiervon und Brian Enos bescheidenem Beitrag zu Gesangseffekten auf The Lamb war die Zusammenarbeit mit anderen Musikern nie wirklich etwas für Genesis. Vielleicht lag es an dieser verstörenden ersten Erfahrung.

Am ehesten kann man den Streicherpartien wahrscheinlich vorwerfen, dass sie am Ende einigermaßen fantasielos überall eingesetzt wurde. Man wird ihrer überdrüssig, besonders in der zweiten Hälfte, wenn dem Hörer allmählich aufgeht, dass man zugunsten des einfachen Weges von vornherein auf andere Instrumente, die die Klangpalette hätten erweitern können, verzichtet hat. Das legt dann auch die Vermutung nahe, dass King die ganze Zeit über wusste, welche Effekte er am Ende erzielen wollte, auch wenn er es der Band nicht verraten hat.

Dass King keine musikalischen Abenteuer zuließ, wäre allerdings ein falscher Vorwurf. Eine der Freuden an From Genesis To Revelation weist bereits auf künftige Experimente voraus, nämlich die Reihe kurzer Instrumentals, die viele der Stücke auf dem Album miteinander verbinden. Während die Band allen Berichten zufolge schon ungeduldig mit den Hufen scharrte, um aus den Konventionen auszubrechen, interessierte King sich nicht im Geringsten für längere Arrangements und ermutigte die Band daher, bei den normalen Popstrukturen zu bleiben. Die faszinierenden Verbindungsstücke mit ihrer mysteriösen und atmosphärischen Anmutung wirken wie ein Zugeständnis, und man muss dankbar sein, dass sie auf dem Album enthalten sind. Gerade diese scheinbaren Abfallprodukte und Musikfetzen erlauben einen ersten Blick auf das, was Genesis nach King ausmachen sollte. Sie bilden den Mörtel zwischen den Ziegelsteinen des zentralen Konzepts. Dabei sind sie nicht so planlos eingebaut, wie es zunächst scheint, denn sie laufen oft auf Akkorde oder passende Pausen hinaus, die das darauffolgende Stück perfekt vorbereiten. Hier wurde ein aufrichtiger Versuch gemacht, aus dem Album mehr zu machen, als Popmusik von Anfängern, die man einfach mal so auf den Markt wirft, und genau das mildert die Kritik an dem Album entscheidend ab: Es hätte sehr leicht viel schlechter sein können. Trotz aller kommerziellen Träume, die King für Gabriel’s Angels gehabt haben mag, hat er sich gegen den einfachen Weg entschieden und wenigstens einige unkonventionelle Ideen der Band zugelassen, im Bewusstsein, dass das Album damit für den Mainstream weniger interessant sein könnte.

In The Beginning

Das wohl mutigste Verbindungsstück beginnt mit dem lauernden Orgelakkord, der In The Beginning einleitet, dann einem elektronischen Wummern Platz machen, das seinerseits durch ein beharrliches Bassriff ersetzt wird – einer der wenigen hörbare und erinnerungswürdigen Momente von Mike Rutherford auf dem Album. So viel Courage wie bei diesem Avantgarde-Intro findet sich auf dem Album nicht noch einmal, aber es bereitet die Bühne für einen Glanzpunkt des Albums. Und es gibt keine Streicher.

In The Beginningist eine farbenfrohe Schilderung, wie Gott die Welt erschafft („Father, son, looks down with happiness, / Life is on ist way“). Erstmals zeigt sich hier die Spannung, die immer an den besten Momenten von Genesis‘ musikalischer Laufbahn auftritt. Phillips bekommt eine seltene Gelegenheit, sich zwischen den Refrains zur Geltung zu bringen. Banks hält sich zurück; sein leiser, aber effektiver Klavierakkord schwebt körperlos über den Strophen. Ein Ozean der Bewegung („ocean of motion“) und Szenen voll geophysikalischer Dramatik („furnace of frenzy“, etwa: „Vulkanschlot des Wahnsinns“), die wahrlich nicht in jedem Popsong auftauchen, werden aber hier mit stimmungsvoller Phrasierung geschildert – und das sollte nicht das letzte Mal sein, dass die Band Lava erwähnt. Aber die wiederholten, ekstatischen 16-Takt-Passagen wie aus einem Kirchenlied ziehen den Song nach oben, und wir hören erstmal diese unablässigen Moll-Melodien unter hochfliegendem Gesang, mit deren vollendeter Form Genesis jahrelang die Fans begeistern wird. Wenn Peter Gabriel wie in einer der großen Bibelverfilmungen von Cecil B. de Mille triumphierend ausruft „Is that the chariot with stallions gold? Is that a prince of heaven on the ground? Is that the sound of a thunder crash?”, kann man sich kaum des Gefühls von urtümlicher Achtung und biblischer Ehrfurcht tief im Inneren erwehren.

Gabriels erhebende Darbietung zeigt im Ansatz schon die Gesangsqualitäten, die die Band in ungeahnte Höhen heben werden. Sehr beeindruckend – auch wenn die herzerbebende Überzeugung in diesem Stück nur ein einziges Mal erzielt wird (vielleicht noch im Schlußteil von In Limbo), ist doch schon klar, dass das nicht einfach nur noch irgendein Album ist. Dass Genesis bei den frühen Auftritten, aus denen sich dann das Material für Trespass entwickelte, auch In The Beginning spielten (aber kein anderes Stück von dem Album), lässt vermuten, dass die Band dieses Stück auch als ein Glanzlicht ansah. Der Phaseneffekt, der zu Zeiten von Itchycoo Park sehr im Schwange war und auch hier über alle Instrumentalpassagen gekleistert wurde, hebt nur den Spaß am Stück.

Fireside Song


3
Wann genau das ’68er Demo The Magic Of Time mit seinem lustig neben dem Takt liegenden Trommelgebürste und dem unbeschwerten Klavier tatsächlich geschrieben wurde, ist unklar, aber seine hektischen Lyrics über Regen, der die Flüsse füllt, Leben, das sich auf der Erde entwickelt, und mit der direkten Erwähnung einer „stillen Sonne“, die die Welt gestaltet, lässt stark vermuten, dass dieses Stück in der Abfolge des Konzeptes nach In The Beginning folgen sollte. Auf der LP folgt ein düsteres, unheilverkündendes Klavierstück, das die langen Einleitungen zu Stücken wie Time Table (1972) und Firth Of Fifth (1973) vorwegnimmt. Dann springt das Narrativ der LP zu einem ruhigeren Schöpfungsmoment, dem Fireside Song. Das Sicherheitsnetz aus Streichern, das Gitarrengeschrammel und die Durtonarten sind vollständig angetreten, und der Songtext blickt schon zurück auf eine Zeit voll „Verwirrung, Enttäuschung, Angst und Ernüchterung“ („confusion, disappointment, fear and disillusion“), als ob die chaotischen Zeiten vorbei wären. Damit erklärt dieses Lied statt des abgelehnten Demos, wie „es kam, dass die Schöpfung der Natur der Welt gegenübertrat“ („it came to pass that nature’s creatures came to face the world“). Zwar wird nirgends ein Kamin erwähnt, doch der Text setzt voraus, dass die Menschheit nun warme und geschützte Plätze gefunden hat, wo sie „jeden Morgen die Hoffnung neu geboren“ sieht („hope reborn with every morning“), wie es im lieblich-süßen Refrain heißt. Bald genug wird eine Schlange auftauchen, um das zu ändern. Die äußerst präzise Aussprache im Gesang der gesamten Gruppe (Banks‘ Stimme ist im Vordergrund) ist auf charmante Art unschuldig; vielleicht war das auch beabsichtigt.

Banks hat mal erzählt, dass der Fireside Song anfangs komplexere Akkorde hatte und er das Stück vereinfachte, um es kommerziell interessanter zu machen – ein Zeichen, dass er eine Sensibilität für Popmusik entwickelte, die Genesis in einem Paralleluniversum noch direkter in den Mainstream geführt hätte. [8] Stattdessen wurde dieser Ansatz für mehr als ein Jahrzehnt zurückgestellt, bis die Band ihn mit großem Ertrag wiederentdeckte. Ab dem nächsten Album sollten erstmal die komplexen Akkordfolgen und verschlungenen Arrangements das Wort haben. Rutherfords Autobiographie deutet an, dass es schwieriger ist, einfache Songs zu schreiben, als das progressive Genre zu bedienen, in dem verschiedene Segmente einfach immer hinzugefügt werden: „Lange Stücke wirken vielleicht clever und schwer zu schreiben, aber uns sind sie leicht gefallen. Wir haben das Stück A genommen und das Stück D und sie miteinander verbunden. Dabei haben wir nicht gemerkt, dass es meistens besser war, wenn wir nicht jedesmal das ganze Alphabet verwenden.“ Mit Blick auf Looking For Someone, das auf dem nächsten Album Trespass erscheinen sollte, ergänzt Rutherford: „Wenn ich diesen Song heute hätte, würde ich die ersten paar Ideen nehmen und hätte einen erstklassigen Song. Damals haben wir noch acht Minuten lang herumgeeiert und haben alles Mögliche hineingepackt.“ [9]

Wenn man Rutherfords Beobachtung in letzter Konsequenz betrachtet, bedeutet dies, dass die Band ihre Laufbahn mit viel mehr Raffinesse und Reife als Komponisten anfing als sie in den sehr geliebten Alben von Trespass bis Wind And Wuthering mit ihren Artrockstücken zum Ausdruck brachten. Vielleicht liegt darin ein Stück Wahrheit – wenn man sein Herz an lange Instrumentalpassagen hängt und an Stücke, die aus mehreren Teilen bestehen, übersieht man leicht die deutlich zutagetretenden Talente für Popsongs auf From Genesis To Revelation. Einige von uns lieben beides und halten beide Seiten von Genesis in Ehren, aber man könnte auch mal einen Gedanken verwenden auf die nie geschriebenen klassischen Hits, mit denen die Band die frühen 70er hätte füllen können, wenn sie nicht ganze Jahre auf diese komplexe Progmusik und die lustigen Masken verwendet hätte. Obwohl sie von Anfang an die Fähigkeit besaßen, kurze Stücke zuschreiben, die sich als Singles verkaufen ließen, entschied sich die Band dagegen, auch wenn Phil Collins in seiner Autobiographie schon für das Jahr 1975 zu Banks und Rutherford bemerkte: „Sie wollen Hits schreiben, Stücke, die in die Charts kommen.“

Der Streit der Fans über die relativen Vorzüge „längerer“ und „kürzerer“ Stücke ist nie abgeebbt. Aber auch in ihrer ganz offen progressiven Phase sind jede Menge kurzer, poppigerer Stücke entstanden (Beweisstück A: I Know What I Like, aber auch Harold The Barrel, Time Table, More Fool Me, vieles von The Lamb usw.), mit denen die Hörer damals auch kein Problem hatten. Als Genesis sich dann wieder vor allem kürzeren Stücken zuwandte und seine Verwurzelung im Pop wiederentdeckte, zeigt sich darin, dass die langen Stücke nie völlig aufgegeben wurden, dass die Band wusste: Beide Seiten gehören unverzichtbar zu ihnen. Vielleicht ging es mehr darum, dass ein bestimmter Teil ihres Publikums davon enttäuscht war, als Genesis den sinfonischen Klang aufgaben, als davon, dass sie kürzere Stücke schrieben. Den Vorwurf, dass die späteren kurzen Stücke vor allem niveaulose Geldbringer gewesen seien, hat die Band stets zu Recht bestritten. Im Beiheft zu R-Kive (2014) bringt Phil Collins es auf den Punkt: „Es ist ja nicht so, dass die kurzen Songs aus dem Fuselfass kommen und die anderen Sachen lange gereift wären. Die Stücke kommen alle aus derselben Quelle.“ [10]

The Serpent

Mit nur 4:36 war The Serpent das längste Stück, das die Band bis dahin eingespielt hatte. Es war eine neue Version eines viel früheren Stückes. Zu den entscheidenden Demos, die Kings Aufmerksamkeit 1967 fesselten, gehörte ein Stück namens She Is Beautiful. Es ist online zu finden oder auf einigen der viele Wiederveröffentlichungen von From Genesis To Revelation oder auf Genesis Archive 1967-1975, und man kann leicht sehen, was King daran gefiel. Obwohl es sehr schlicht und nur mit minimaler Percussionbegleitung aufgenommen wurde, hinterlassen das unheilvoll hüpfende Riff auf den tiefen Tasten von Banks‘ Klavier und Gabriels eisig-scharfe Stimme einen bleibenden Eindruck. Ein bedrohliches, beunruhigende Porträt weiblicher Eitelkeit symbolisiert Angst oder Unsicherheit gegenüber der Weiblichkeit, die Genesis‘ gesamtes Schaffen durchziehen wird. Was in dieser Zeit wohl noch eine Restwirkung der Internatszeit war, in der Frauen als komplett andere Wesen dargestellt wurden, die es, wo immer möglich, zu vermeiden galt (was unweigerlich Neugier, völlig unrealistische Erwartungen oder tief verwurzelte Vorbehalte weckte), führte in Genesis‘ frühen Texten dazu, dass weibliche Wesen oft als Figuren auf Beutezug oder Verräter und Verführer scheinbar unschuldiger Männer dargestellt wurden (letztere Schreckgestalt wurde auf The Lamb ins völlig Fantastische aufgeblasen – und Phil Collins fand später eigene Gründe, bei solchen Themen lyrische Angst zu entwickeln).

Der Protagonist des Stückes greift das Ziel seiner offensichtlich besessenen Leidenschaft als „Nervenwrack mit süßer Fassade“ („nervous wreck with a sweet facade“) an, deren steile Karriere als Model einhergeht mit einer kalten Zurückweisung der Männer, da sie dem leeren Erfolg angeblich ihre Gefühle und ihre Integrität opfert („vanity arrived with fame“). Das mitleiderregende Fehlen „Give it up baby, honey give it up and come back to me“ enthüllt jedoch den wahren Plan, der noch gesteigert wird durch das köstliche Ende „Don’t take my love away from my arms, Oh no, I need her near me every single day, Please don’t take her away, I need my love“. Die Frau ist wohl nicht so gefühlskalt und unnahbar – die Trauben hängen nur zu hoch. Das Ergebnis ist ein richtig unterhaltsames und starkes Stück; allerdings sollte der Protagonist gelegentlich mal einen Therapeuten aufsuchen.

She Is Beautifulwurde zwar in erster Linie von Banks und Gabriel geschrieben, aber ungefähr zur selben Zeit befand sich Phillips in einer sehr ähnlichen romantischen Situation mit einer Ballerina, die bald genug kaputtgehen sollte. Hier ahmte das Leben die Kunst nach. Phillips zufolge trug auch diese Episode zu seinem zunehmend dünnen Nervenkostüm bei, das binnen eines Jahres dazu führte, dass er die Band verließ – aber später brachte sie der Welt die wundervollen Stücke Lucy Will (auf Sides von 1979) und Lucy: An Illusion (von Private Parts And Pieces II: Back To The Pavilion, von 1980) ein.

King fand She Is Beautifultoll, wusste aber nicht, wie das Stück in das große Konzept für From Genesis To Revelation passen konnte. Daher scheint er die Band überredet zu haben, neue Texte zu schreiben, die das Thema des Verrats durch Frauen beibehielten (“Und Gott schuf die Frau, das Gefäß von Satans Macht” – “and God created womankind, the vessel of Satan’s hold”). Die unmittelbare Wirkung des Originals ging zum Teil verloren, aber in dieser neuen Gestalt wurde The Serpent einer der erinnerungswertesten Beiträge zum Album, voller Atmosphäre und einem dramatischen Anflug von Angst, die die Ankunft von Satans Einfluss in Eden ankündigt. Der Bass ersetzt die tiefen Klaviernoten des Originals (ein weiterer seltener Moment für Rutherford im Scheinwerferlicht) und die auffällig klickenden Drumsticks (ein sehr seltener Moment für John Silver, falls er dort spielt) ersetzen die zögernden Akkorde der Übergangssequenzen; dieses Stück ohne Streicher und ohne Gitarrengeschrammel sticht aus dem Rest des Albums heraus. Die hallenden Schläge der Drumsticks scheinen vor allem zu verstören, weil sie so unerwartet sind. Damit deuten sie aber auch sehr geschickt an, dass plötzlich eine Macht von außen dazukommt, die nicht recht dazugehört. Banks Orgelspiel im Hintergrund klingt ein wenig nach House Of The Rising Sun und verstärkt die Wirkung des Stücks durch einen schelmisch melodramatischen Effekt.

Der Songtext ist knackig und erfinderisch, und auf sehr ersprießliche Weise wie aus einem Märchenspiel: „Creator made the serpent wise, Evil in his tempting eyes, Man is wonderful, very wonderful, Look at him- Beware the future.“ („Der Schöpfer machte die Schlange weise, böse mit versuchenden Augen, der Mensch ist wundervoll, oh so wundervoll, sieh ihn dir an – hüte dich vor der Zukunft“). Darin liegt der Hinweis, dass die Welt von der Menschheit genausoviel zu fürchten hat wie von der Schlange, oder wenigstens, dass die zwei unentwirrbar miteinander verflochten sind: „I’m waking up, the day of Man has come“ („Ich wache auf, der Tag des Menschen ist gekommen.“) Wenn die recht wörtliche Auslegung des Albumkonzeptes wie in diesem Stück so effektiv ist, wundert man sich schon, dass die geradlinigen Aussagen sich nach diesem Stück in nebulöseren Themen verlieren. Andererseits: Noch mehr direkte Bezüge auf die Bibel, und das Album stünde heute noch in der Abteilung für religiöse Musik.

Die distanzlose Offenheit von She Is Beautiful ist zwar verlorengegangen, aber die lyrische Verschiebung hin zu The Serpent zeigt, dass King mit einigem Erfolg darauf bestand, die naiven Schuljungenfantasien zu spektakuläreren, raumgreifenderen Visionen aufzublasen: Schon als Anfänger im Songschreiben fassten sie den Mut, über das Profane hinauszugehen. So erzwungen diese Expansion anfangs auch gewesen sein mag, sie beeinflusste dauerhaft die Richtung, in die sich Genesis während der nächsten fünf Jahre entwickeln sollte. Die Visionen wurden großer, tiefer, auch düsterer, und kaum drei Jahre später nahm Genesis sich den ganz offen religiösen Blickwinkel des Kampfes zwischen Gut und Böse in Supper’s Ready wieder vor.

The Serpentwird mit einem überaus treffenden Verbindungsinstrumental eingeleitet. Der brütende Moll-Jam von Gitarre, Bass und trappelnden Bongos würde sich auch in The Lamb gut einfügen. Kurz bevor das Intro verklingt, bricht Phillips ganz plötzlich in ein Gitarrenriff aus, das später als Hauptthema von Twilight Alehouse wiederverwertet wurde. Dieser Song tauchte bald in den Livesets auf und wurde während der Foxtrot-Sessions 1972 aufgenommen, obwohl es bis Anfang 1974 dauern sollte, bis er als B-Seite der Single zu I Know What I Like erschien. Dass solche Einfälle in dieser frühen Zeit auf flüchtigste Augenblicke beschränkt wurden, ist eine Schande. Aber Genesis hat niemals vielversprechende Einfälle unbeachtet gelassen. Manchmal wurden einzelne Riffs und ganze Passagen jahrelang ins Regal gelegt, bis sie dann verwendet wurden. Die Stücke des sogenannten Jackson-Tapes (online und auf der Bonus-CD des Remaster-Boxsets 1970-1975 zu finden) belegen das, denn sie enthalten bereits Elemente, die später in verschiedenen Genesis-Klassikern wieder auftauchen.

Am I Very Wrong?

Einen weiteren unauslöschbaren Hinweis auf die Zukunft der Band gibt das Stück Am I Very Wrong?. Nach einem nachdenklichen Zwischenspiel auf dem Klavier (mit einer seltsamen Melodie voll spitzer Noten) scheint es, als öffne sich unerwartet ein Portal, das in die Zeit von Trespass führt: Funkelnde Akustikgitarren (die Saiten einzeln angeschlagen) treffen auf Gabriels eindringliches Flötenspiel und genießen ihr Debüt in der Klangwelt von Genesis in einer Passage, die wie ein entfallener Teil von White Mountain wirkt. Wer bislang noch an From Genesis To Revelation zweifelte, sollte spätestens jetzt überzeugt sein, dass dies ganz sicher die Gruppe ist, die mit ihren weiteren Alben ihre Sympathien erobert hat.

Unter dem Einfluss der Schlange machen sich in der Menschheit Zweifel breit, ob das Leben in einem zwangsweisen Paradies tatsächlich der richtige Weg ist. Ein ewiges Leben automatisierter Freude ohne Wahlmöglichkeiten – ist das wirklich Freiheit? „Am I very wrong, To try to close my ears to the sound they play so loud?, Am I very wrong?, The happiness machine is trying hard to sing my song.” („Habe ich so unrecht damit, wenn ich meine Ohren vor dem Klang verschließen will, den sie so laut spielen? Habe ich so unrecht damit? Die Glücklichkeitsmaschine bemüht sich sehr, mein Lied zu singen“). Der Liedtext ist zu subtil, als dass er Äpfel oder einen Baum der Erkenntnis nennen würde (obwohl Banks beides in seinem Solosong A Curious Feeling von 1978 erwähnt), aber er deutet auf eine Abwendung vom Schöpfer hin. Dementsprechend werden Gabriels klagende Zweifel, als der Refrain scheinbar aus einer anderen Sphäre hereinschwebt, mit der engelsgleichen Stimme der Glücklichkeitsmaschine konstrastiert, d.h. mit dem Gesang von Phillips, der das Thema unterstreicht, indem er mit honigsüßer Stimme zu besänftigen versucht: „Today’s your birthday friend, everything alright, Let us our greetings to you send, Happy friend, everything all right, We hope your life will never end.“ („Heute ist dein Geburtstag, Freund / alles ist gut / Lass mich dir unsere Grüße schicken / glücklicher Freund, / alles ist gut / wir hoffen, dein Leben wird nie enden.“) Dieses qualvolle Versprechen ewiger Beschwichtigung greift Gabriels Gesang in angsterfüllter Verneinung in der Coda auf: Er wiederholt „never end“ („niemals enden“) in immer verzweifelterem Ton, als ob ihm endlich bewusst würde, was das wirklich bedeutet.

Phillips jungenhaft zerbrechliche und flehende Stimme hat an dieser Stelle etwas liebenswert Süßes. Angeblich wollte er der Sänger sein, bevor er sich Gabriels offenkundiger Begabung beugte. Phillips grazile Stimme reifte später noch heran und fand in seinem Soloschaffen auch die richtige Nische. Ganz allgemein schwindet der Chorgesang der gesamten Band, ein typisches Merkmal der frühen Jahre, mit den Alben dahin. Beschleunigt wurde der Vorgang durch den Eintritt von Collins in die Band. Seine offenkundige Begabung für Hintergrundgesang wurde schnell erkannt und bald überall eingesetzt, was in seiner (aus dem Rückblick) scheinbar vorherbestimmten Erhebung zum Sänger nach Gabriels Abschied kulminiert. Am Rande bemerkt war der Journalist Armando Gallo der erste, dem auffiel, wie frappierend Am I Very Wrong?das Dilemma vorwegnimmt, in dem Gabriel steckte, als der Druck der Berühmtheit und der Entfremdung von seinen Bandgenossen 1974/5 zu groß wurde: „Am I very wrong / to want to leave my friends and the curse of the happiness machine?“ („Habe ich denn so unrecht, wenn ich meine Freunde verlassen möchte und den Fluch der Glücklichkeitsmaschine?“) [11]

In The Wilderness

Die helleren Klavierarpeggios, mit denen In The Wildernessbeginnt, deuten zusammen mit dem Titel an, dass eine Art Flucht oder Vertreibung aus dem Garten Eden stattgefunden hat, die Menschheit nun auf sich selbst gestellt ist und die himmlischen Kräfte zurückweichen – allerdings dem Klang nach nicht ohne Erleichterung auf beiden Seiten: „Leaving all the world to play they disappear“ (z.B. „Indem sie die ganze Welt spielen lassen, verschwinden sie“ oder „Sie verschwinden zum Spielen und lassen die Welt hinter sich“ … die Bedeutung dieser Zeile ist sehr uneindeutig; d.Übers.) Die Klänge der Glücklichkeitsmaschine sind immer noch zu hören, aber die Menschen haben sich von ihr abgewandt: „Music, all I hear is music, guaranteed to please, / and I look for something else“ („Musik, ich höre immer nur Musik, die garantiert erfreut, / und ich suche nach etwas anderem“). Der Nachteil besteht darin, dass sie jetzt nicht mehr vor der Gewalt geschützt sind, die beispielsweise vom kommenden Eroberer ausgeübt wird – darauf deutet die Zeile „Fighting enemies with weapons made to kill, Death is easy as a substitute for pride“ („Wenn man Feinde mit todbringenden Waffen bekämpft / ist der Tod ein leichter Ersatz für Stolz.“).

In The Wilderness gehört zu den geradlinigen Poprocksongs auf dem Album. Das Stück verliert keine Zeit, von der einfachen Strophe zum großen mitsummbaren Refrain zu kommen, der offensichtlich seine Daseinsberechtigung darstellt. Ansonsten findet sich ziemlich wenig in dem Stück, nicht einmal eine Brücke, abgesehen von einer kurzen Wiederholung des Arpeggios vom Anfang (Silver bringt hier ein bisschen aufwändigere Trommelarbeit unter, die King mal nicht herausgeschnitten hat), bevor der ununterdrückbare Refrain wiederholt wird. Die Streicher klingen hier recht gut – und klingen wieder mal unheimlich nach den Mellotronklängen, durch die sie bald ersetzt werden – und machen keinen Hehl aus ihrer Dominanz. Gabriel liefert hier eine der besten Gesangsleistungen auf dem Album ab; seine Stimme rückt näher an die schwierigen Töne, die er bald erreichen wird – aber er musste verzweifelte Maßnahmen ergreifen, um die Töne hinzubekommen: “Das lag über meine Stimmreichweite. Man kann dieses verzweifelte Würgen hören, während ich um jede hohe Note kämpfe. Ich habe dauernd duschen müssen und alles Mögliche andere, um wach zu bleiben.“ [12]

Der Stolz der Band darauf, einen so starken Refrain gefunden zu haben, zeigt sich daran, dass sie das Thema zweimal in Instrumentalreprisen aufgenommen haben. Das illustriert, dass man sich deutlich mehr Gedanken über die Präsentation des Albums gemacht hat, als ihnen allgemein zugestanden wird. Während das eigentliche Stück zu Ende geht, kommt Banks am Klavier wieder herein und spielt die Melodie des Refrains in Moll auf dem Klavier; ein melancholischer Zweifel kommt auf – vielleicht daran, ob es so klug war, die Wildnis dem Paradies vorzuziehen. Als auch diese Reprise verklingt, haben wir das perfekte Ende der ersten Plattenseite erreicht. Die Erzählung macht eine Pause, während derer man in den Zeiten, als Pausen unvermeidlich waren und man eben einfach etwas drauf machte, mal aufs Klo gehen oder einen Becher Tee trinken konnte. Die Schallplatte umzudrehen war einerseits ärgerlich, bot aber auch Gelegenheit für dramatische Pausen und kreative Ansätze (die erste Seite von Peter Gabriels zweitem Soloalbum erlaubte sich den alten, aber wirksamen Trick, bis in die Schlussrille zu laufen. Auf nicht-automatischen Plattenspielern plinkerten die Synthesizerklänge der träumerischen Coda von White Shadow dann in alle Ewigkeit vor sich hin).

The Conqueror


4
Nachdem die Pause vorbei ist und der Hörer wieder am Plattenspieler sitzt, wird die Melodie des letzten Refrains noch einmal in den bedauernden Klängen wiederholt, mit denen die zweite Albumseite beginnt: Phillips greift (mit Rutherfords Unterstützung) das Thema auf einer gedämpften E-Gitarre (und einem schrecklich zischenden Verstärker) wieder auf. So ist der Handlungsfaden wieder aufgegriffen, und das Album wirft seine Melancholie schnell ab und geht in das kräftige Klaviermotiv auf, das wie eine Fanfare die Ankunft des Eroberers (The Conqueror) verkündet. Die Klavierlinie bildet (wie bei dem Demo zu She Is Beautiful) das Rückgrat des gesamten Stücks, das wie In The Wilderness bei einem soliden Wechsel zwischen Strophe und Refrain bleibt, ohne Variationen, ohne Brücke, bis zum abschließenden Stop und dem Wiederbeginn der Coda. Was dem Song an Abwechslung fehlt, gleicht er durch Esprit aus. Der beharrlich flotte Rhythmus bietet einen der tanzbareren Momente auf dem Album – und solche Gelegenheiten bot Genesis nicht besonders oft, nicht einmal in ihren Pop-Jahren, worauf die Band in einem viel späteren Albumtitel dann auch mal Bezug nahm.

The Conqueror ist in mancherlei Hinsicht, vor allem im Songtext und den Strophen in ihren treibenden Durtonarten, ein Vorgänger von The Knife, das auf dem nachfolgenden Album erschien. Der Eroberer, der hier heranrückt, klingt sehr nach dem wütenden Protagonisten des späteren Stücks, voll unaufhaltsamem Idealismus und mit abgeschlagenen Köpfen auf seinem Weg. Stellt das Lied den Pharao dar, der die Israeliten versklavt (das nächste Stück, In Hiding, deutet eine Zeit im Exil an), oder nur irgendeinen der zahllosen psychopathischen Könige und Stammesfürsten, von denen das Alte Testament durchsetzt ist? Jedenfalls enthält es dann einen heftigen Anachronismus, der die Schusswaffen ein paar Jahrtausende zu früh ansetzt: „Hey look out son, There’s a gun they’re pointing at your pretty face.“ („Hey, pass auf, Junge, die richten eine Pistole auf dein schönes Gesicht“). Und doch klingt die Zeile „He’s busy building monuments to hide inside his empty grave“ („Er ist damit beschäftigt Monumente zu errichten, um sich in seinem leeren Grab zu verstecken“) schon wie ein Anspielung auf die Pyramiden. Das lyrische Konzept kommt ab hier ziemlich weit vom Weg ab. Verallgemeinerungen könnten sich auf Motive aus dem 2.Buch Mose (Exodus) oder den darauffolgenden Büchern der Bibel beziehen, die Stammeswanderungen, Beziehungen und Eroberungen schildern, aber sie könnten sich auch auf irgendwas anderes beziehen. An dieser Stelle interessieren sich auch die Hörer, die dem narrativen Bogen bis hierhin gefolgt sind, nicht mehr allzusehr für ein konsistentes Bild. Jedenfalls könnte man hier einige feministische Aspekte thematisieren angesichts der recht frivolen Erwähnung von Konkubinen, da ja „der Held Überstunden macht“ mit seinen „fünfhundert kleinen Frauen“ („hero is working overtime“, „five hundred little women“). Andererseits gibt es eine Warnung davor, sich gegen den Aufstieg von Faschisten nicht zu wehren: “He’s bought the castle on the hill, He’s bought it just to knock it down, The local power shout him down, They say he’s just an empty-headed clown” (“Er hat das Schloss auf dem Hügel gekauft, er hat gekauft, nur um es abzureißen. Die örtlichen Machthaber haben ihn niedergebrüllt, sie sagen, er sei nur ein hohlköpfiger Clown.“) Dessenungeachtet ist der Eroberer weiterhin auf dem Weg, und bald werden Köpfe rollen, wie es meistens passiert, wenn der Aufstieg eines Tyrannen nicht verhindert wird.

Der unablässige Wechsel von Strophe und Refrain findet schließlich sein Ende, als das Stück nach etwa drei Minuten unerwartet aufhört, und Gabriel nur von ein paar Akkorden von Banks begleitet weitersingt „and the words of love were lying on an empty floor, just in the place where the Conqueror lay“ („und die Worte der Liebe lagen auf dem leeren Boden, genau dort, wo der Eroberer lag“). Dann kommt das zentrale Riff wieder mit vollem Schwung hinzu und es passiert etwas völlig unerwartetes: Anthony Phillips spielt ein Gitarrensolo. Das ganze Stück über hat er tapfer versucht, mit einer dauernd herumwirbelnden hohen Gitarrenlinie (kurz davor, dass sie wie eine Rückkopplung wirkt) die Strophen zu stärken und ein Lebenszeichen zu geben. Als das Motiv zum letzten Mal zurückkehrt und er weder gegen Bläser noch Streicher kämpfen muss, wirkt es, als würde Phillips eine seltene Gelegenheit ergreifen und loslegen, bevor King ihn herunterregeln kann – was schnell genug passiert, aber immerhin erst, nachdem der Gitarrist einen kurzen Moment der Genugtuung genießen konnte. Es ist nicht sein bestes Solo und Phillips klingt, als würde er ein paar Straßen weiter im Badezimmer stehen, aber trotzdem fügt er dem Song ein abgefahrenes Stück 60er-Jahre-Gitarrengenudel hinzu, sodass er die leicht anarchische Energie bis zum Ende behält. Man hätte vielleicht gerne mehr solcher Improvisationen auf dem Album gehabt, aber das hier ist schonmal etwas.

Herausstechende Solos, um die Fähigkeiten des Solisten zu demonstrieren, gehörten trotz der vielgerühmten Fingerfertigkeit der Band nie so recht zu dem, was Genesis ausmachte. Die Bedürfnisse des Stückes und die Wahrung der Ensemblewirkung kamen immer zuerst (wenn Steve Hackett das bei The Cinema Show auch anders sehen mag). Daher lässt sich behaupten, dass The Conqueror eines von insgesamt nur sechs vollen „Solos“ auf der E-Gitarre enthält, die Phillips in der Band spielen konnte. Die anderen sind auf der B-Seite That’s Me, Teile der Demos Build Me A Mountain und Going Out To Get You und seine beiden großen Momente in The Knife. Schon in dieser Zeit – und man kann das sogar noch auf dem Stück The Women Were Watching von seinem ’84er-Album Invisible Men hören – hatten seine Solos einen hohen, heulenden Stil, der die Noten veränderte, bis sie fast schon schief klangen. Phillips lange und umfassende Musikerkarriere nach Trespass sollte sein unbestreitbares musikalisches Genie erstrahlen lassen.

In Hiding

Keine Verbindung, kein Prolog ist In Hiding gegönnt; das Stück bricht direkt mit den warmen Harmonien seines Refrains in das ausklingende The Conqueror. Damit wird effektiv Aufmerksamkeit erzeugt für ein weiteres sanftes Stück, das konventionell produziert ist. Klavier, akustische Gitarre und die Streicher spielen einen Walzerrhythmus, einen seltenen Takt bei Genesis. Damit geben sie Gabriels honigsüßem Gesang Platz zum Atmen, während er seine sensibelste Leistung auf diesem Album abliefert.

Der Chorgesang der Band “Pick me up, put me down, Push me in, turn me round, Switch me on, let me go – I have a mind of my own“ (“Hilf mir auf, setz mich ab, schieb mich rein, dreh mich rum, schalt mich an, lass mich gehn – ich habe meinen eigenen Sinn”) deutet an, wovor sich die Figur tatsächlich versteckt. Frei von der Tyrannei des Eroberers und seinen „Fabriken der Wahrheit“ („factories of truth“) weisen die Strophen auf eine Zeit der Ruhe, vielleicht des Exils hin oder vielleicht auf eine selbstgewählte Flucht, um mit der Natur eins zu werden: „I walk among the tall trees, This is beauty I know, I’m in love with it all.“ („Ich gehe unter den hohen Bäumen dahin. Das hier ist Schönheit, die ich erkenne, ich liebe es alles.“) Durchweg mit leichtem Tremolo gesungen, vermittelt der Gesang effektiv das Gefühl von Erleichterung und Dankbarkeit für dieses bukolische Zwischenspiel.

Das Thema „zurück zur Natur“ schmeckt ein bisschen nach Phillips Texten, obwohl die Lyrics von Gabriel geschrieben wurden. Musikalisch ist In Hiding eine direkte Zweitverwertung eines anderen frühen Demos namens Patricia. Dieses Instrumental von 1967, erhältlich auf dem Genesis Archive 1967-1975, stellt die älteste verfügbare Aufnahme von Genesis dar (Pennsylvania Flickhouse von der Charterhouse-Band Anon zählt hier nicht). Der kratzige Amateurklang von Patricia, das in irgendwessen Wohnzimmer mit einem Tonbandgerät aufgenommen wurde, ist auf gewinnende Weise liebenswert. Aus solchen kleinen Eichen wachsen mächtige Bäume heran.

In dem überarbeiteten Song gibt es einen eigentümlichen Moment, an dem der Text ein wenig anzüglich zu werden scheint: „In hiding, I will take off my clothes“ („Im Versteck ziehe ich meine Kleidung aus“), aber das wird unmittelbar durch die folgende Zeile revidiert „… that I wear on my face“ („… die ich im Gesicht trage“). Grammatikalisch wäre „I will take off THE clothes…“ richtiger und würde auch nicht so merkwürdig klingen, aber das gehört zur dichterischen Freiheit. Diese Gesichtsenthüllung ist gewissermaßen das Gegenstück zu jener anderen merkwürdigen Anweisung in Where The Sour Turns To Sweet: „Paint your face all white to show the peace inside“ („Mal dein Gesicht ganz weiß an, um den Frieden darin zu zeigen“).

One Day

Die bukolische Stimmung wird gewahrt von der optimistischen Einblendung von One Day (dem ersten Fade-in von Genesis), die ein ganzes Stück voll Streicher und Gitarrengeschrammel anzudrohen scheint. Dies ist auch ungefähr der Moment, an dem die stete Wiederkehr von vorhersagbaren Arrangements und Dur-Tonarten den Hörer anfängt zu stören und er sich überlegt, ob es wirklich noch ein Stück gibt, das genau dasselbe Rezept verwenden kann, nur um dann herauszufinden: Ja, das gibt es. Eine gewisse Katharsis wird erzielt, als die Band plötzlich innehält, um den Neustart-Trick zu wiederholen und Banks ein sonniges Klavier-Arpeggio spielt, um das eigentliche Stück einzuleiten. Dann zieht die Band noch einen starken Refrain als Wiedergutmachung aus dem Hut; auffällige Bläserfanfaren begleiten den Gesang und der Chorknaben-Begleitgesang tritt in den Vordergrund.

Die durchgängig hohe Qualität der Refrains auf dem Album, die stets in Ohr gehen, ist eines der beeindruckenderen Charakteristika von From Genesis To Revelation; nie fühlt man sich betrogen, was das angeht. Trotzdem wächst der Eindruck, dass man jetzt so ziemlich alles gehört hat, was das Album zu bieten hat. Keine innovativen Instrumental-Jams und nur wenige Molltonarten stemmen sich gegen die zuckrige Süße. Die wiederholte Verwendung der einfachen Abfolge von Strophe und Refrain, die auch hier wieder aufscheint, erweckt das Gefühl, dass der Ehrgeiz die Band verlassen hat. Da die Stücke offenbar nicht in der Reihenfolge geschrieben wurden, wie sie auf dem Album erscheinen, scheint diese Monotonie eher einem Fehler in Kings Gruppierung des Albums als einem Unvermögen der Songschreiber geschuldet.

Lyrische Pläne, mit der Geliebten „in das Königreich meiner Träume“ „wegzufliegen“, nachdem man sich allzu beflissen Rat von Vögeln, Kirschbäumen und Tieren geholt hat, deuten auf einen unerwiderte Liebe in der Vorstellung hin und nicht auf irgendetwas halbwegs reales. Dieses Lied ist Welten entfernt von dem Duke-Song Please Don’t Ask (1980). Das Thema der Natur aus One Day setzt sich mit In Hiding fort, auch wenn jedes Anzeichen einer Geschichte sich im Unbestimmten verliert – auch das wohl ein Zeichen für Ermattung bei der Produktion; wahrscheinlich hat irgendjemand beschlossen: „Das passt ganz gut hier hin.“

Window

Das Verbindungsstück mit schwungvollem Klavier scheint ein bisschen den „Crabalocker fishwife“-Momenten aus I Am The Walrusvon den Beatles zu ähneln; das Album dürfte Banks in jener Zeit eifrig gehört haben (wartet ab, bis er In The Court Of The Crimson King hört!). Kaum ein Jahr später verwendet er dasselbe Riff mit der Hammondorgel für Visions Of Angels. Was dem Zwischenstück an Sauberkeit fehlt (es enthält eine unüberhörbare falsche Note), macht es durch Munterkeit wieder wett.

Leider wird das Versprechen, an der entscheidenden Zwei-Drittel-Marke des Albums mit einer neuen Stimmung für Auffrischung zu sorgen, nicht erfüllt; stattdessen bekommen wir Window. Phillips und Rutherford haben hier ein wirklich schönes Stück geschrieben, aber es hat mal wieder ländliche Hörner, Streicher und entspannten Gesang und verbreitet ein Gefühl von Müdigkeit. Auf der Haben-Seite sind die einzeln angeschlagenen Gitarrensaiten zurück und das Stück hat eine 16 Takte lange Brücke, deren Höhepunkt eine Transzendenz erreichen, die nur Genesis erreichte, und den Hörer in neue Höhen freudiger Erwartung hebt – um ihn dann mit einer seltsamen Textzeile darüber, dass Jack Frost jemanden einen Albatros küssen sieht (ja, ernsthaft!) stehenzulassen, was gleichermaßen surreal und banal wirkt. Andere Zeilen verkünden: „The little nymphs dance in her hair“ („die kleinen Nymphen tanzen in ihrem Haar“) – skurriler wird auch Genesis nicht. Wenn wir nächstes Mal den Nymphen begegnen, ist das 1971 in The Fountain Of Salmacis, und die Lage hat sich dramatisch verdüstert.

Vom Text her folgt Window dem Thema von In Hiding: Frieden findet sich in der Natur, und die Gedanken an eine geliebte Person bergen Trost: “Guiding us forward through pastures of dream day, Days to enjoy, peace I knew once before me, Dawning to dusk on the hills until morning, Come see me, take my hand…” (“Leite uns voran durch die Wiesen eines Traumtages / Tage zu genießen / Frieden, den ich einst vor mir wusste, / von Dämmerung zu Dämmerung auf den Hügeln bis zum Morgen / Komm, sieh mich an, nimm meine Hand…“) Alles gut und süß, aber wahrscheinlich wird kaum jemand dies zum besten Moment auf dem Album wählen. Auf Youtube (wo mancher neue Fan diese Stücke hören wird, obwohl sie dort traurigerweise abgehackt sind) bekommt Window viel weniger Kommentare als andere Stücke von From Genesis To Revelation.

In Limbo

Das Zwischenstück mit nachdenklichem Klavier und akustischer Gitarre, mit dem In Limbo(ganz sicher nicht der rockigste Titel aller Zeiten) eingeleitet wird, droht noch eine Runde blauäugiger Wanderungen durch die Natur. Zum Glück passiert etwas völlig anderes, weil sogar King gemerkt zu haben scheint, dass jetzt dringend etwas Drastisches passieren muss. Eines der stärksten Riffs auf dem Album zerfetzt den bukolischen Dunst. Banks spielt plötzlich eine schnelle, tiefe Klavierfigur und liefert damit die Bass-Verankerung für einen der aufregendsten, wenn auch ungebärdigen Songs der Sammlung. Die Bläserfanfaren eilen hinzu und dominieren schamlos, aber effektiv den Klang, während die Band sich ein bisschen entspannt; ganz weit rechts ins Stereobild ist Silver gequetscht und klopft fröhlich vor sich hin diesem belebenden typischen 60er-Jahre-Groove.

Bei diesem Stück scheinen sich allerdings alle vielleicht ein bisschen zu sehr entspannt zu haben. An welchem Punkt des Studioaufenthaltes In Limbo genau aufgenommen wurde, lässt sich nicht rekonstruieren, aber man gewinnt das starke Gefühl, dass hier vielleicht die Studiozeit zu Ende ging und man nirgends mehr besonders sorgsam war. Die Musiker spielen, höflich gesagt, unsauber; es wirkt, als hätte sogar der sonst sehr sauber arbeitende Greenslade Mühe, seine eigenen Tonspuren in Takt und Tonart auf das Gewürge abzustimmen, das ihm da vorgelegt wird. Alle scheinen sich zu beeilen, damit wenigstens irgendwas aufgenommen wird. Das Händeklatschen, das sehr menschliches Timing verrät und viel von dem Vergnügen an dem Stück ausmacht, ist jedenfalls nachweislich echt (denn es gab ja noch keine Drumcomputer). Der Klang jedoch, der ja nirgends toll ist, geht hier komplett vor die Hunde; zunehmende Verzerrungen und blecherner Klang machen den Tumult auch nicht durchschaubarer. Die Bemerkungen zum Album deuten an, dass die Stimmung im Kontrollraum stets angespannt war, und erwähnen King, „… der herumschrie, gelegentlich Zustände bekam und versuchte, sich nicht die Haare auszuraufen“. Ein merkwürdiger Hinweis an den Käufer. Trotz alledem kommt insgesamt fröhliche Freiheit heraus – dieses Stück ist neuer Schwung, den das Album an dieser Stelle so unglaublich nötig hat.

Das wohlige Gefühl, eins mit der Natur zu sein, scheint sich für den Protagonisten verflüchtigt zu haben; er hat das Bedürfnis wieder woandershin zu fliehen. Eden war nicht genug, und die Welt im Ganzen auch nicht: “Bring mich weg / in die tiefste Höhle der Nacht. / Bring mich weg / Stimmen der Liebe / Hier bin ich / in der traurigen, traurigen Welt der Furcht.“ (”Take me away, To the deepest cave of the night, Take me away, Voices of love, here am I, In the sad, sad world of fear.”) Und es wird noch schlimmer, während das Stück seine erheiternde Schlussapotheose erreicht: “Frieden – im Limbus schwebend, Limbus – der mich nirgends hinführt, Frieden – jetzt ohne Bewegung rufe ich – wann werde ich sterben? Gott – wo ist meine Seele jetzt? Meine Welt, lass mich frei.“ (“Peace- floating in limbo, Limbo- leading me nowhere, Peace- now without motion, I cry- when will I die?, God- where is my soul now?, My world, please set me free.”) Vielleicht war es doch keine kluge Idee, mit der Schlange zu reden.

Diese erheiternde Coda ist ein erstes Beispiel für einen dieser Momente, in dem offenbar Genesis instinktiv weiß, wie man die Spannung und Aufregung erhöht und damit einen dieser Gänsehautmomente schafft, die Genesis-Hörer so gut kennen, auch wenn sie für Nicht-Fans schwer zu fassen sind. Hier kommt er zustande durch die Art und Weise, in der die Bassnote plötzlich gehalten wird und neue, gleichzeitig erhebende und besorgte Akkorde hinzukommen, während Gabriels angstdurchsetzte Stimme aufsteigt, die Band insgesamt ein Crescendo erzeugt und Phillips so viele erfindungsreiche Gitarrenmotive wie möglich unterbringt, bevor das Fade-out einsetzt. Das verzerrte Tonband kann das alles nicht gut aufnehmen, und das Fade-out sorgt dafür, dass diese Schlusspartie letztlich ins Nichts führt, aber Genesis lernte bald, solchen Momenten den Platz zu lassen, damit sie wirken können.

Silent Sun

Nach dieser Aufregung sind ruhigere Fahrwasser gefragt, und Silent Sun bietet einen guten, verlässlichen Ankerplatz. Das Stück vermittelt das Gefühl von Normalität und ist einer der kompaktesten Popsongs der Band, die ihn ganz speziell schrieb, um Kings Aufmerksamkeit mit einer zeitgenössischen Melodie im Stile der Bee Gees zu gewinnen. Aus diesem Blickwinkel könnte man behaupten, dass Silent Sun der wichtigste Song ist, den Genesis (in diesem Fall: Banks und Gabriel) jemals geschrieben haben, da er ja die gewünschte Wirkung erzielte, als Kings Interesse abzuflauen drohte, bevor ein Plattenvertrag gemacht war. Die Single-Version The Silent Sun, die im Februar 1968 noch mit Chris Stewart am Schlagzeug erschien, bedeutete den ersten kleinen und doch riesigen Schritt in die Welt kommerzieller Veröffentlichungen. Das einleitende Klaviermotiv und der angespannte hohe Streicherklang ziehen den Hörer sofort an; einfache Strophen führen mühelos zu einem hymnischen Refrain. Die Orchesterinstrumente und die Gitarre funktionieren hier hervorragend. Das Stück ist auch gut aufgenommen, wahrscheinlich weil es eingespielt wurde, bevor alle müde wurden von der Produktionsarbeit und die Ende der Studiozeit näher rückte. Es gibt eigentlich keinen Grund, warum dieses einfache Lied über eine unerwiderte Liebe – mit gutem Marketing – kein Hit hätte werden können, da es ja ein ganz eingängiges Lied ist, das jeder Postbote pfeifen könnte. Aber das Schicksal hatte andere Pläne für Genesis.

Die Albumversion ist etwas kürzer, was möglicherweise an einer etwas anderen Bandgeschwindigkeit liegt, denn strukturelle Unterschiede gibt es nicht. Sie ist ein einfacher Remix der Single, d.h. hier spielt Stewart statt Silver, aber es gibt nichts Störendes, und beide Versionen klingen ziemlich gleich. Dass der Song an dieser Stelle des Albums auftaucht, obwohl er ja lange entstand, bevor das Album und seine Erzählkonzept überhaupt angedacht waren, zeigt: Selbst der Anschein irgendeines Erzählbogens wurde aufgegeben und Silent Sun liefert einfach noch einen guten, starken Popmoment, der die letzten paar Minuten vor dem eiligen Finale des Albums füllt.

Das Flehen eines Liebenden zu einem offenbar unwilligen Partner setzt das Thema der Jagd nach umherstreifenden Frauen fort (oder eröffnet sie erst, wenn man bedenkt, dass dieses Stück die erste Veröffentlichung der Band war). Einen Höhepunkt erreicht das Thema zu Gabriels Zeiten vielleicht in Counting Out Time. Hier jedoch ist die Frustration weniger körperlicher als romantischer Natur. Die Frau selbst ist „die stille Sonne, die niemals scheint“ („the silent sun that never shines“), aber auch „die Wärme meines einsamen Herzens“ („the warmth of my lonely heart“). Sie ist „der kleine Stein, der sich vor mir verbirgt“ („tiny stone that hides from me“) und verstörenderweise „ein Bergbach, der das Meer abkühlt“ („a mountain stream that chills the sea“). Wie bei She Is Beautifulwird nicht ganz deutlich, warum der Erzähler eine so offensichtlich ungeeignete Partnerin sucht, aber so ist es eben, und der Refrain fleht: „Baby, du fühlst dich so nah, ich wünschte, du könntest meine Liebe sehen“. Kann sie aber offenbar nicht. Als Lied funktioniert das aber, auch wenn die gefloppte Single es den Briefträgern dieser Welt versagte, ihrer Arbeit mit einer fröhlichen Melodie im Ohr nachzugehen.


A Place To Call My Own

Wie beendet man eine Platte, die mit solch erhabenen Ansprüchen begonnen hat? Realistisch gesehen konnte das Album niemals den Erwartungen entsprechen, die sein großartiger Titel geweckt hat. Solange man nicht spezifisch Lieder über die weiteren Bücher des Alten Testaments, die Geschichte Jesu und die halluzinogenen Visionen der Offenbarung des Johannes schreiben wollte (was sicherlich faszinierend gewesen wäre, aber ein Doppelalbum und vielleicht auch einen Wechsel des Bekenntnisses erfordert hätte), war von vornherein klar, dass dieses Album sich ins Nebulöse durchwurschteln würde. Und das tut From Genesis To Revelation dann auch. Die zunehmende Verzweiflung, die einen Moment lang von der undisziplinierten Aufregung von In Limbo und der opportunistischen Ergänzung des fertigen „Hits“ Silent Sun überdeckt wurde, starrt uns bei A Place To Call My Own ins Gesicht. Dieser Song wurde scheinbar nur eingefügt, um eiligst einen „Abschluss“ der Geschichte zusammenzuzimmern.

Als übriggebliebenes Fragment einer viel längeren Komposition von Phillips deutet die erste Zeile „… und ich habe fast einen Platz für mich selbst gefunden“ („…and I’ve nearly found a place to call my own“) an, dass wir hier den Schluss von etwas hören, das einmal für Größeres bestimmt war. Die rätselhaften Worte, die mit gewichtiger Stimme von einfachen, sehnsuchtsvollen Klavierakkorden begleitet werden, legen nahe, dass sich hinter den romantischen Andeutungen eine esoterische Wahrheit verbirgt: „Wache allmählich auf, fühle ihre Nähe, Teufel zerschlagen, Wärme ist überall, Ich bin nur eins ihrer Kinder, meine wachende Gottheit, jetzt erreiche ich das Ende meiner Reise in ihrem Schoß“ („Waking gently, feel her presence near, Devil shattered, warmth is everywhere, I am only a child of hers, my guardian goddess, Now I’m reaching my journey’s end, inside her womb“). Auch wenn sich überall auf der ersten Plattenseite eine Schlange bemerkbar machte, wird doch hier eigenartigerweise ein einziges Mal direkt der Teufel erwähnt, und das im Kontext, dass wohl irgendein Sieg über ihn errungen wurde und eine verlässliche Partnerin / Geliebte sich endlich gefunden hat. Damit wäre dieser Teil der Erzählung irgendwann nach den letzten Ereignissen der Offenbarung in einem künftigen Paradies anzusiedeln. Oder soll die ansonsten ja auch eher von sexuellen Andeutungen getragene Zeile, dass „in ihrem Schoß“ eine Reise endet, auf das ungeborene Jesuskind anspielen, das darauf wartet, von Maria geboren zu werden? Vielleicht. Oder auch nicht. Wie bei den meisten Stücken auf From Genesis To Revelation müssen wir raten.

King war sich im Klaren darüber, dass dieses Album wenigstens mit einer Geste, mit irgendeinem Eindruck von spiritueller Transzendenz zu Ende gehen musste. Da dieses kurze Zwischenstück namens A Place To Call My Ownschon nach wenigen Versen vorbei war, holte King noch einmal Greenslade und ließ ihn eine noch eine weitere Goldader aus Streichern und Bläsern ausbeuten. Die Band verschwindet fast vollständig dahinter. Man hört von ihnen nur entferntes Klavier und Bass und einen abschließenden Ausbruch von „la-la“-Chorgesang, die wirken wie die himmlischen Reise, die in leuchtenden Wolken verschwinden, vor denen dann gewöhnlich das Wort „Ende“ erscheint. Obwohl ein angeklebter Epilog besser ist als gar keiner, sind Müdigkeit und Belastung in diesem etwas erzwungenen Stück mit Händen zu greifen. Irgendjemand im Studio wollte offenbar endlich nach Hause, Arbeit erledigt, irgendein Finale wurde aufgenommen, die Regler wurden hastig nach unten gezogen, und das erste musikalische Abenteuer von Genesis auf Plattenlänge war fertig.

Über die Länge von zwei Plattenseiten hinweg sind wir von der Genesis aus gereist, aber wohl nicht bis zur Offenbarung. Oder noch nicht ganz. Wie bereits bemerkt, sollte Genesis 1972 mit Supper’s Ready in ganz großem Stil zu religiösen Bildern zurückkehren – und das Stück greift in den Höhepunkten seiner letzten beiden Abschnitte auf die Offenbarung des Johannes zurück, sodass die Band damit unabsichtlich (oder doch nicht?) einen verspäteten Abschluss liefert für das, was hier angefangen hat.


Zusammenfassung


CoverFrom Genesis To Revelation
ist ganz deutlich ein erster Versuch voller Fehler von absoluten Anfängern. Aber das Album ist keineswegs so irrelevant, wie manche Fans meinen, und es bereitet den Boden für viel von dem, was Genesis später musikalisch und thematisch machen werden, auch wenn die Hinweise darauf meist unterschwellig und selten offen sind. Auch das Textblatt mit seinen krakeligen Zeichnungen mit rotem Stift und Tolkienscher Anmutung ist nicht so weit weg von dem, was in den ersten Pressungen Trespass beiliegen wird, und auch nicht von der Innenseite von Nursery Cryme (und später A Trick Of The Tail, Duke, Genesis und sogar We Can’t Dance), indem dort einige Szenen aus den Stücken abgebildet werden.

Dass Genesis zu einer Zeit, in der Veröffentlichungen von neuen Bands meistens nur das Allernötigste an Ausstattung bekamen, überhaupt ein Textblatt beilegen durften, spricht Bände dafür, dass man sich hier wirklich angestrengt hat, der Gruppe eine echte Chance zu verschaffen. Wenn sich das Album damals auch nicht verkaufte, hat sich in künstlerischer Hinsicht der Aufwand, einen Stapel neu aufgenommener Demos zu ordnen und zu einem Album zu gestalten, wirklich ausgezahlt. Diese größere Vision, zu der King die Band von Anfang an ermuntert hat, scheint Genesis den Mut gegeben zu haben, niemals vor epischen Bildern zurückzuschrecken. Ohne den Schwung dieser LP hätten wir wahrscheinlich kaum mal etwas von diesen kreativen Jungs gehört.

Wenn man sich mit dem Material dieser wichtigen Zeit wieder vertraut macht, kann man 43 weitere Minuten gut anhörbarer Musik entdecken, und das von einer Band, die erstaunlich wenig Material aus der Zeit mit Gabriel als Leadsänger hat, die viele Leute so hoch schätzen: nur fünf Studioalben für diejenigen, die dieses Album nicht mitzählen. Ein ganzes zusätzliches Album ist dann doch eine willkommene Erfahrung, die eine Neubewertung verlangt. Welcher Nutzen, welcher Vorteil liegt darin, dass Fans und sogar Mitglieder der Band, dieses Werk ausgrenzen, als hätte es nie existiert? Das Album ist vielleicht kein verlorenes Juwel von unschätzbarem Wert, und später sollten viel funkelndere Reichtümer hinzukommen, aber From Genesis To Revelation ist nichtsdestotrotz ein hübscher bunter Stein auf dem Weg, den aufzuheben und sich anzuschauen durchaus lohnenswert ist.

Von Andy Thomas, deutsch von Martin Klinkhardt
[Dank des Autors geht an Jonathan Dann für Korrekturen und Vorschläge]

Andy Thomas ist ein etablierter Autor und Dozent, der mit Büchern über ungeklärte Rätsel und Verschwörungen sowie über Geschichte und Volkskunde bekannt wurde. Er ist außerdem ein erklärter Genesisfan und erfahrener Keyboarder, der seit 34 Jahren überall im Südosten von England spielt. Seine Lieblingsalben sind The Geese And The Ghostvon Anthony Phillips und The Lamb Lies Down On Broadway von Genesis. Mehr über Andys Arbeit findet sich auf seiner Webseite: www.truthagenda.org

Dieser Artikel erschien im Original auf der offiziellen Website von Anthony Phillips unter diesem Link. Wir danken Anthony Phillips, Jonathan Dann und Andy Thomas für die Möglichkeit, ihn komplett auf Deutsch zu übersetzen und bei uns veröffentlichen zu können!

*

FROM GENESIS TO REVELATION
Released by Decca Records, 7 March 1969 [SKL 4990]

Side One
01 Where the Sour Turns to Sweet (3:14)
02 In the Beginning (3:42)
03 Fireside Song (4:16)
04 The Serpent(4:36)
05 Am I Very Wrong? 3:28)
06 In the Wilderness(3:21)

Side Two

07 The Conqueror (3:44)
08 In Hiding (2:56)
09 One Day (3:16)
10 Window (3:53)
11 In Limbo(3:06)
12 Silent Sun (2:08)
13 A Place to Call My Own (1:57)

produziert von Jonathan King
Toningenieure und Aufnahmeleitung: Brian Roberts und Tom Allom
zusätzliche Orchesterinstrumente von Arthur Greenslade and Lou Warburton

Bandbesetzung (Namen sind angeführt wie seinerzeit auf dem Album):

Anthony Banks (Klavier, Keyboards, Gesang)
Peter Gabriel (Gesang, Flöte)
Anthony Phillips (Gitarre, Gesang)
Michael Rutherford (Bass, Gitarre, Gesang)
John Silver (Schlagzeug, Gesang auf From Genesis to Revelation und anderen Tracks/Demos aus der Zeit)
Chris Stewart (Schlagzeug, Gesang auf frühen Singles und Demos)

*

Anmerkungen und Quellenangaben

1 – Photos von den Aufnahmesessions: Das Buch Chapter & Verse enthält viele wichtige Fotos von den Aufnahmen zu From Genesis To Revelation sowie andere erhellende Fotos aus der Zeit

2 – Aufnahmezeit: Die Quellenangaben sind uneinheitlich in der Frage, wie viele Tage Genesis für die Aufnahme ihrer ersten Platte zur Verfügung standen. In Hugh Fielders The Book Of Genesis (S.19) sagt Peter Gabriel: „Wir haben From Genesis To Revelation an einem Tag aufgenommen.“ Etwas realistischer ist wohl Mike Rutherfords Angabe in Chapter & Verse (S.37): “Wir haben nur drei Tage für das Album gebraucht.” Armando Gallos Buch Genesis: I Know What I Like (S.14) hält andererseits fest: „Während der Sommerferien 1968 hatte Jonathan King zehn Tage für die Band in den Regent B-Studios gebucht”. Die Angabe von zehn Tagen wiederholt sich in Phil Collins‘ Autobiographie Not Dead Yet. Allerdings war Collins nicht dabei und zitiert vielleicht nur Gallo, der auch nicht dabei war. Unklar bleibt außerdem, ob die „zehn Tage” im Regent B-Studio auch die Aufnahmezeit für die zusätzlichen Streicher und Bläser beinhalteten, bei denen die Band bekanntlich nicht dabei war.

3 – Jonathan King über Stewart und Silver: Zitiert nach Chapter & Verse, S.45.

4 – Banks über das Albumkonzept “absolut erbärmlich“: Zitiert nach Chapter & Verse, S.33.

5 – Gabriel über “Gabriel’s Angels”: Zitiert nach Hugh Fielder, The Book Of Genesis, S.18.

6 – Gabriel über den Gesang in der Schulkapelle von Charterhourse: Zitiert nach Genesis: I Know What I Like, S.14.

7 – Phillips über die zusätzlichen Streicher: Zitiert nach Chapter & Verse (S.38), und (zweites Zitat) nach Genesis: I Know What I Like (S.15).

8 – Banks über die Vereinfachung von Fireside Song: In Chapter & Verse(S.37) sagt Banks: „Die Strophe war ein Stück, dass ich ursprünglich mit ziemlich komplizierten Akkorden geschrieben hatte. Eines Tages habe ich mich hingesetzt und mir überlegt, dass die Melodie selbst schön war – und ob ich sie nicht einfach mal mit den einfachsten Feld-, Wald- und Wiesenakkorden unterlegen sollte, um zu sehen, wie das klang. Und dann dachte ich: ‚Das klingt jetzt aber viel besser‘.

9 – Rutherford über lange Stücke: Zitiert nach Mike Rutherfords Autobiographie The Living Years, S.72.

10 – Collins über das Schreiben von kurzen Stücken: Die Bemerkung, dass Banks und Rutherford 1975 wieder Hitsingles schreiben wollten, stammt aus Collins‘ Buch Not Dead Yet (S.142). Seine Verteidigung kürzerer Stücke findet sich im Beiheft zur Compilation R-Kive auf Seite 5.

11 – Armando Gallo über Am I Very Wrong?: Gallos Bemerkung darüber, wie gut die Worte auf Gabriels spätere Lage passen, stammt aus seinem Buch Genesis: I Know What I Like(S.158): „Die wohl interessanteste Textzeile stammt aus Peters Lied Am I Very Wrong?, mit der er seine Trennung von der Band sieben Jahre später vorherzusagen scheint.“

12 – Gabriel über den Gesang bei In The Wilderness: Zitiert nach Hugh Fielder, The Book Of Genesis, S.19.