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Genesis – Die große Nachglut – Kommentar zum Genesis-Comeback
When In Rome und zuvor Live Over Europe markierten im Rahmen der Turn It On Again-Tour ein großes Comeback ohne neues Material – das wirft Fragen auf und weckt gleichzeitig Interessen. Tobias Müller kommentiert das Comeback…
1 Afterglow
„Like the dust that settles all around me / I must find a new home“ (Genesis, 1977)
Nun ist er weit über 50 Jahre alt, und noch immer weiß man nicht genau, wie er heißt:
Rock? Pop? Jugendschlager? Kommerz-Musik? Konsum-Musak? Oder ein sich entwickelndes Massenkulturphänomen mit zahllosen Abspaltungen, Verfeinerungen, Gegenbewegungen? Ist er eine Institution der Selbstfindung, des Widerstandes? Der Fürsprecher für individuelle Freiheit? Oder das Werk des Teufels? Oder einer von vielen kulturellen Höhepunkten der Menschheit? Jedenfalls mag man kaum bezweifeln, dass es seit über einem halben Jahrhundert etwas auf diesem Planeten gibt, dass zwar viele Namen, viele Gesichter, viele Geschichten, viele Klänge, viele Philosophien hat, aber doch im Grunde nur eins ist: auf Blues, Jazz und Klassik basierende Musikkunst. Man kann nicht sagen „reine U-Musik“ (Unterhaltungsmusik), ebenso wenig „reine E-Musik“ (ernste Musik), ebenso wenig „auf E-Gitarren basierende Musik für Jugendliche und Heranwachsende“… Freilich: Es ist sinnvoll, sich auf „Rockmusik“ zu einigen, doch soll man im Hinterkopf immer den Gedanken behalten, dass es eine Menge „Rockbands“ gibt, die den Begriff Rock erweiterten oder sogar ad absurdum führten.
Seit Jahren kann man nun leider erkennen, dass die Rockmusik im Sterben liegt. In einem heutigen Menschenleben sind 50 Jahre nicht viel, aber in der Rockmusik schon. Sie wird immer kommerzieller, immer berechenbarer, immer unglaubwürdiger – und auch, wenn sie so tut: die Rockmusik von heute hat nichts mehr mit Rebellion, Gesellschaftskritik, Bewusstseinserweiterung, Selbstentfaltung, Weltentdeckung zu tun. Und doch sind die Rockveteranen der ersten Stunde noch immer nicht von der Bildfläche verschwunden und zelebrieren (oft nach langer Schaffenspause) ihre Kunst: Bob Dylan scheint uns immer noch etwas sagen zu wollen, die Rolling Stones wird es wohl auch noch die nächsten 50 Jahre geben und auch Chuck Barry schafft es immer noch auf die Bühne und spielt Johnny B. Goode. The Police haben sich 2007, dem Jahr der Reunionen, wieder zusammengetan, Led Zeppelin gaben ein gewaltiges, einmaliges Konzert fast in der Urbesetzung, und schließlich auch die Prog-Rock-Veteranen Genesis ließen es für ihre Fans mit Phil Collins nochmal krachen. Sie zeigten sich von der Liedauswahl als das, was sie sind: nämlich nichts weniger als eine handwerklich schon immer hervorragende Rockgruppe, die sowohl subtile, virtuose, anspruchsvolle Kunstwerke als auch eingängige, radiotaugliche Hitnummern geschaffen hat; im Grunde eine Band, die zu Beginn der 1970er Jahre die Grenzen der Rockmusik verschob und heute zu einem Symbol für das Schicksal der Rockmusik geworden ist. Denn so groß Genesis auch sind, so grandiose Kompositionen sie auch ihr Eigen nennen und so überschäumend die Stimmung bei ihren Live-Konzerten auch ist: die vergreiste Rockmusik beleben sie ebenso wenig wie frisch gecastete Mainstream-Poser oder ambitionslose, verwechselbare Nischen-Alternativos – egal ob Kommerz-Rock im Rampenlicht oder Indie-Gehampel im Untergrund: die Rockmusik stirbt, all die vielen Leute, die sich heute heimatlos und unverstanden und gefangen und falsch vorkommen, die sollen nicht mehr in der Rockmusik ihr Zuhause suchen – sie sollen einsam auf den von der Abendsonne violett gefärbten Straßen gehen und ihre Sehnsucht nach etwas Neuem herausschreien: „Like the dust, that settles all around me I must find a new home! The ways and holes that used to give me shelter are all as one to me now!“
All die großen Reunionen sind nicht etwa das neue Morgenrot der Rockmusik, nein, sie sind nur eine schöne Abendröte, ein letztes Jappsen nach Luft, nach Anerkennung, bevor der Vorhang entgültig fällt: ein groß angelegter Nostalgie-Zirkus für alle, die wahnsinnig begeistert waren, als Stairway To Heaven endlich auf Vinyl zu haben oder als das lustige I Can’t Dance – Video überall zu sehen war.
Für alle, die nun nicht auf der Turn It On Again– Tour von Genesis sein konnten, und natürlich für alle, die da waren und sich dieses Stück Musikgeschichte nach hause holen wollen, veröffentlichten die drei Briten dieses Jahr noch eine dreier DVD-Box mit dem Gratiskonzert in Rom und einer Tourdokumentation, die allen Standarts gerecht wird und den Fans als eine wirklich gut gemachte Nostalgie-Packung ausreichen dürfte, ein Filmdokument, das eine weitere großartige Band zeigt, die unweigerlich zum Symptom der kulturellen Abendröte geworden ist. Darf man es ihr verdenken?
2 I Know What I Like
„Gambling only pays when you’re winning“ (Genesis, 1973)
Warum hat man für das Cover der DVD den Genesis-Schriftzug genommen, der auf dem We Can’t Dance – Album (dem letzten Genesis-Studioalbum mit Phil Collins) verwendet wurde? Sicherlich nicht, um eine neue Dekade einzuläuten. Warum hat man nicht einen neuen Schriftzug entworfen? Oder den von Abacab zum Beispiel verwendet? Steht die DVD also unter dem Stern des 1991 veröffentlichten Pop-Rock-Albums (We Can’t Dance)?
Man darf leichten Gewissens sagen: nein! Das Cover spricht nur scheinbar die Anhänger der Pop-Genesis an. Bis auf den Schriftzug ist es im Grunde relativ nichtssagend. Elegant schwarz, in der Mitte eine futuristische Bühne mit seltsamen Las Vegas -Lichteffekten, davor Tausende Menschen.
Schaut sich der Radio-Genesis-Fan die Liedliste auf der Rückseite an, so muss er feststellen, dass er vielleicht nur 8 oder 9 der insgesamt 23 Lieder aus dem Radio kennt. Er wird Lieder wie That’s All, In Too Deep, Jesus He Knows Me, wenn er Genesis nur von einem schlechten Radiosender kennt auch In The Air Tonight und Another Day In Paradise vermissen. Passionierte Fans dürften eigentlich recht zu frieden sein, auch wenn sie sich eher ein Dance On A Volcano als ein Land Of Confusion (ja, die Doppeldeutigkeit ist gewollt) gewünscht hätten. Egal, in welches Lager man gehört, die 25-35_ konnten sicher die meisten Leute guten Gewissens aufbringen, und niemand dürfte wirklich enttäuscht sein.
Interessant ist, dass das Menü der DVD mit einem Ausschnitt aus The Cinema Show und Duke’s Travelunterlegt ist. Die letzte Genesis-DVD wurde noch mit Mama unterlegt, die DVD zur aktuellen Tour allerdings mit Prog-Rock in Reinform; also schon allein das DVD-Menü zeigt, dass hier mindestens kein reines Pop-Konzert gezeigt wird. Man hatte also keine Angst, dass sich die Pop-Fans gleich zu Beginn die Stimmung versauern. Gut. Das Konzert beginnt schließlich auch nicht mit einem Pop-Song.
Ein kurzer Abschweifer: Was man auf der DVD natürlich nicht mitbekommt, ist die Musik, die beim Einlass gespielt wird. Natürlich spielt man da kein Stück aus der Setliste, auch nicht Dusk oder Harold The Barrel (viele Besucher würden die Stücke sicher nichteinmal als Genesisstücke erkennen): das Publikum wird mit vielen bekannten Liedern aus dem Radio (oft mit Nostalgie-Faktor) auf Popstimmung eingetrimmt. Die Verantwortlichen dafür denken sicherlich, es handelt sich hier um ein Oldie-Konzert und haben vielleicht noch Follow You Follow Me im Hinterkopf. Bei dem Konzert scheint es sich also nicht mehr um ein neues Kapitel in der Kunst von Genesis zu handeln, sondern nur um eine Gelegenheit, sich noch einmal gemeinsam an früher zu erinnern. Dabei ist auch klar, dass viele nur wegen Phil Collins gekommen sind. Als ich zu dem Leipziger Konzert gefahren bin (besten Dank nochmal an den Genesisfanclub, bei dessen Gewinnspiel ich die Karten gewonnen habe), hörte ich im Radio eine Moderatorin, die Sussudio ankündigte mit dem Hinweis, dieses Lied werde ganz sicher auch heute abend gespielt. Allein das Leipziger Zentralstadion wäre mit Ray Wilson am Mikrophon niemals voll geworden, auch wenn die Ticketpreise nur halb so hoch gewesen wären. Die meisten sind also nicht hier, um Genesis in ihrer ganzen Schönheit zu erleben, sondern um Phil Collins mal wieder live singen zu sehen. Doch schon vor weit über 20 Jahren waren die Lager geteilt: die einen sehen in ihnen eine tolle Pop-Band mit Jugendsünden, die anderen eine zum Mainstream übergelaufene Prog-Rock-Künstlergruppe. Vielleicht hätte man einen guten Spagat hinbekommen, wenn man z.B. das Hounds Of Love-Album von Kate Bush vor dem Konzert gespielt hätte, oder sogar Passion von Peter Gabriel? Die Stimmung vor einem Konzert entscheidet mit am stärksten, wie die Musik wahrgenommen wird – der Rahmen war schon immer sehr wichtig, und die Genesis-Konzerte dieser Tournee haben leider den selben Rahmen gehabt wie Konzerte von Bon Jovi.
Das letzte Mal haben Genesis auf ihrer 1984er Tour das Konzert mit einem proggigen Lied eröffnet, das man nicht aus dem Radio kennt (Dodo war das damals), auf der 87er-Tour hatte man Mama als Opener und auf der Tournee zu We Can’t Dancespielte man zuerst Land Of Confusion. Nun, 2007 traute man sich endlich wieder, das Konzert mit bombastischem Prog-Rock zu eröffnen.
Während die Band auf die Bühne kommt, um das Behind The Lines– Intro durch den Circus Maximus wummern zu lassen, wird eine kleine Animation eingespielt, die einen Fernseher zeigt, der angestellt wird: erst sieht man ein buntes Testbild, dann wechseln die Bilder wie mit der Fernbedienung gezappt: u.a. ein knurrendes Raubtier, ein Ausschnitt aus Phil Collins TV-Predigt aus dem Jesus He Knows Me – Video, den jungen Phil Collins, der mit seinen Bandkollegen Mike Rutherford und Tony Banks vor einer Fernseh-Kamera steht und die Band vorstellt: „Hi! We are Genesis“, Auszüge aus den Genesis-Videos Robbery Assault and Battery, No Son Of Mine, Jesus He Knows Me, In Too Deep und Follow You Follow Me. Dann schwirren immer mehr Fernseher wie ein riesiger Bienenschwarm auf den Bildschirm und bilden schließlich die Erdoberfläche mit allen sieben Kontinenten. Dann wird an Europa herangezoomt und „Roma“ markiert.
Was möchte diese Animation sagen? Dass Genesis mit ihren Hits auf der ganzen Welt zu Hause sind? Dass Millionen Fernseher angestellt sind, um Genesis zu sehen? Dass Genesis überall waren? Dass sie auf ihre Hits mehr Wert legen als auf ihre Prog-Klassiker? Dass sie für die Pop-Fans spielen und der Nostalgie wegen auch einen paar peinliche Klassiker auftischen? Ist es nicht etwas überzogen und selbstgefällig? Dass „turn it on“ mit einem Fernseher assoziiert werden kann, ist zweifellos klar, aber warum muss sich die Band als fast reine Pop-Band zeigen? ist dies womöglich Ausdruck eines gewissen Schamgefühls vor ihrer alten Sturm und Drang – Zeit? Oder sollte man einfach bedenken, dass das Fernsehen ein Massenmedium ist und dass in ihm kaum Platz für die großangelegten Prog-Rock-Sachen ist, und dass – wenn Genesis jetzt aufdrehen – sie nicht nur für die Zuschauer spielen, die Genesis nur aus dem Fernseher kennen, sondern auch den Fans ihrer progressiven Phase etwas bieten wollen und vielleicht (etwas zumindest) ihre kommerzielle Ausschlachtung der letzten Jahrzehnte wieder gut machen wollen? Man kann nur spekulieren, und je nachdem welches Temperament und welchen Geschmack man hat, wird man diese oder jene Möglichkeit für die wahrscheinlichere halten.
Wie auch immer – Behind The Lines wird vortrefflich gespielt, es funktioniert gut als Opener, auch wenn es aus dem Duke-Kontext herausgeboben wurde. Für Radiofans eine Kopfnuss, für die Album-Fans eine positive Überraschung. Folgerichtig schließt sich Turn It On Againan, die Titelnummer der Shows, ein Lied eigentlich über die heitere Obsession und Selbstisolation beim Fernsehen, nun eine berühmte Stimmungsnummer, die nach Nostalgie schmeckt – und irgendwie auch seltsam anmutet, wenn Collins schreit „Dreh(t) es wieder auf“. Meint er das Publikum? Oder er die Band? Oder sich selbst sogar?
Das Publikum hat Collins jedenfalls im Griff. Wie gewohnt. Er schafft immer noch eine lockere Atmosphäre, fotografiert das Publikum (er relativiert so zumindest symbolisch die Distanz zwischen Star und Fan, in dem er von den Fans Bilder macht, und sich nicht nur fotografieren lässt) und spricht in der Landessprache des Publikums (wie immer von einem großen Zettel abgelesen). Und dann plötzlich das nächste Lied: ein kommerziell sehr erfolgreiches Lied – über Kindesmissbrauch. Irgendwie seltsam. Vergleichen wir mal: Ein alter Bekannter besucht dich seit 15 Jahren wieder, einfach, um sich noch mal zu zeigen, ihr plaudert ausgelassen über die schöne gute alte Zeit, und nach 10 Minuten spricht er plötzlich über Kindesmissbrauch. Wie wirkt denn das? Will man das hören? Kann man das hören? Weiß das Publikum, worum es in dem Text geht? Oder erinnern sich die Leute nur daran, wie sie das Lied in ihrem Tirol-Urlaub hoch und runter gehört haben? Bewegt dieses sehr ernste Thema das Publikum von Rom? Oder freut es sich nur, die Stimme von Phil Collins zu hören, der den Oscar für sein Tarzanlied bekommen hat? Ist es nicht letztlich etwas makaber, eine nostalgische Stimmung mit einem Lied über Kindesmissbrauch zu erzeugen? Nehmen wir an, in Hamburg wird ein Theaterstück über das Thema aufgeführt, die Schauspieler sind gut, die Texte sind gut, und am Ende kreischt das Publikum, applaudiert lachend, hat Freudentränen in den Augen – kann man sich das vorstellen.
Mit dem darauffolgenden Land Of Confusion ist es ähnlich – das Lied war ein großer Erfolg, das Video war toll, das „OhOhhhhOhhh“ kann man toll mitgrölen – aber versteht man den Text wirklich? Sieht man Collins nicht eher wie ein Wesen hinter dicken Glas wie im Zoo, dass zwar glaubhaft das Stück interpretiert, aber doch nicht wirklich die Emotionen des Liedes vermitteln, sondern sich nur beobachten lassen kann, wie es noch einmal den nachdenklichen, zeitkritischen Popmusiker spielt? Klatschen die Leute, weil sie in dem Lied ihre Verzweiflung ausgedrückt finden, oder weil man einfach klatscht, wenn ein Lied vorbei ist bzw. weil Collins immer noch so schön singen kann?
Um alle Fragen auf eine zu reduzieren: Was hat sich Genesis dabei gedacht, zwei seriöse, nachdenkliche Stücke an den Anfang der Show zu setzen? Wenn sie wirklich noch etwas sagen wollen, sollten sie zeigen, dass sie mit den Botschaften ganz bewusst keine nostalgische Partystimmung erzeugen wollen und zur Not ihre Botschaft mit neuen, unzweideutigen Videos begleiten. Alles Andere scheint mir sehr makaber zu sein, und es spielt keine Rolle, dass dies sicher nicht so gewollt ist.
Hier erkennt man deutlich das Problem der Rockmusik schlechthin: die Texte verlieren ihre Bedeutung. Früher war die Rockmusik ein Medium, um Botschaften, Werte, Stimmungen eines neuen Lebensgefühls zu vermitteln, heute geht es nur um Tanzen, Zeitvertreib, Erholung vom Alltag, und so ist die Rockmusik nichts weiter als eine Museumsattraktion, mit samt den zur Zeit kommerziell erfolgreichen Rockgruppen. Die Glaubwürdigkeit fällt, der Esprit wird immer dünner – im Großen (die weltweite Kulturlandschaft) wie im Kleinen (die Genesis-Tour).
Genesis wissen genau, was ihre Fans wollen: Unterhaltung. Die Band hatte sicherlich niemals den Anspruch, die Welt zu verändern, was nicht kritisiert werden darf. Sie haben früher mit Peter Gabriel gezeigt, dass Unterhaltung in der Rockmusik mehr bedeuten kann als Hüpfen und Mitgrölen – selbst heute schafft es Gabriel, einen würdevollen, seriösen Grundtenor in seinen Alben und Tourneen beizubehalten, und es ist weit aus seltener, dass in Here Comes The Flood reingekreischt wird als in No Son Of Mine. Vielleicht können Genesis gar nicht anders, als einfach nur noch locker zu unterhalten, vielleicht ist Invisible Touch und I Can’t Dance daran schuld, dass das Image der Band auf ewig das Seriöse, Melancholische, Nachdenkliche verloren hat, dass selbst ernste, traurige, kritische Lieder nicht mehr wirklich als solche wahrgenommen werden. Vielleicht. Vielleicht ist das Publikum schuld, weil es nur eine geile Zeit haben will und nicht mehr sich umhauen lassen will von der Magie der Kunst und nicht mehr mitfühlen will mit den Schicksalen, von denen die Liedtexte erzählen.
Das Cage-Medley im Anschluss an Land Of Confusion dürfte nun ein zweites Mal die Fans der Pop-Ära verstören. Es ist kein Deep-Purpel-Rock, kein Zeppelin-Rock, kein Stones-Rock, und trotzdem Rock. Der Text ist seltsam, kafkaesk, surreal, eine sehr manische, treibende Stimmung – bis auf die Hintergrundprojektion (ein silberner Mann rennt vor einem rot-glühenden Gitter, ein Käfig, der irgendwann mit ihm zerspringt – gibt nicht das wieder, was der Text erzählt) passt alles. Die Band spielt die Nummer von 1974 sehr virtuos und Collins singt es immer noch besser als es Gabriel (der den Text geschrieben hat) jemals getan hat. Sie können es also immer noch. Doch obwohl sie einen der Höhepunkte des Lamb Lies Down On Broadway – Albums spielen, kann das Lied allein wie immer nicht die Stimmung des ganzen Albums erzeugen, auch wenn der Text für sich allein stehen kann. Es ist wie einzelne Szenen aus einem Film vorführen oder im Fotoalbum blättern und ein paar tolle Bilder seinen Freunden zeigen, ohne die Geschichte hinter dem Bild zu erzählen. Hier scheint mir aber, ich erwarte zu viel von dieser Show, die Genesis schließlich nur als eine abwechslunsgreiche Band darstellen möchte – was sie auch durchaus schafft und ich deshalb keinen wirklich großen Grund zur Kritik an dieser Stelle habe.
Es gibt sicher kein Stück von Genesis, das in einem Medley perfekter nach In The Cage passen würde als The Cinema Show. Es strahlt eine unheimlich positive Energie aus, hat eine ganz eigene Sprache und ist nach all den Jahren immer noch so frisch und leicht und sauber wie 1973. die Band spielt es grandios und scheint es regelrecht zu genießen (vielleicht sogar leicht schadenfroh?), den Leuten eine andere Seite von sich zu zeigen. Der Ausschnitt aus Duke’s Travels allerdings passt nicht wirklich – der Übergang ist recht holprig – man hätte sich lieber erst wieder für ...In That Quiet Earth nach The Cinema Show entscheiden sollen und anschließend den Duke-Part. Der Übergang zu Afterglow ist jedenfalls sehr gelungen. Collins kommt zwar nicht an seine sensationelle Interpretation der Three Sides Live heran, doch ergreifend ist es immer noch – er interpretiert es ohne ironische Distanz, zumindest scheint es so, als würde er den Text immer noch verstehen und nachfühlen, anstatt ihn nur für die Fans runterzuleihern, was Mancher bei der Betrachtung einiger Interview-Aussagen von Collins vor der Tour vielleicht erwartet haben könnte. Doch die Frage bleibt, ob solch ein emotionales Musikstück seine ganze Schönheit auf solch einer Tour entfalten kann oder ob es nicht doch bloß wie eine Kopie einer Erinnerung wirkt.
Viele Fans meinten, Hold On My Heart war der Tiefpunkt der Setliste, und auch, als ich gelesen habe, dass man den We Can’t Dance-Charthit nach der Tony-Banks-Liebeshymne Afterglowspielt, dachte ich, dies wäre genau so unästhetisch wie In Too Deepanstelle von Willow Farm in Supper’s Ready einzubauen. Doch es funktioniert. Auf das Hymnische, Sehnsuchtsvolle, Zeitlose von Afterglow folgt das etwas gelassenere, bodenständigere Hold On My Heart, wie ein nüchterner, fein-bürgerlicher Wille zur Besinnung, der auf den gewaltvollen, entgrenzenden Rausch der Liebe wie das Gewissen eines Erwachsenen am nächsten Morgen antwortet – auf „I’ve lost everything“ folgt „If I can recall this feeling“. Sehr gelungen.
Vielleicht wäre es an dieser Stelle des Sets passend gewesen, einen Song zu spielen, den man noch nie zuvor live gespielt hat. Dies würde in gewisser Weise unterstreichen, dass Genesis mehr sind als ihre Klassiker von Firth Of Fifth bis No Son Of Mine, und böte auch dem Fan eine originelle Möglichkeit, Genesis live von einer neuen Seite zu entdecken. Another Record wäre zum Beispiel ein Song gewesen, der an diese Stelle passen würde – der Text hätte sogar „Augenzwinker-Charakter“ gehabt. there’s an old Rock’n’Roller / he’s got nowhere to go“). Auch Just A Job To Do, Anything She Does oder die 86er-B-Seite I’d Ratehr Be You hätten für große Überraschungen gesorgt, in wie weit sie positiv wären, läge an der Darbietung. Zumindest hätte sich der Kauf des Doppel-Live-Albums, dass aus Konzerten der Tournee zusammengestellt wurde, noch mehr gelohnt, wenn darauf Live-Versionen von Songs zufinden wären, die noch niemals zuvor auf einem Konzert gespielt wurden. Wie auch immer.
Dass Home By The Seanicht fehlt, ist nicht verwunderlich, vereint es doch makellosen Rock-Pop mit nach 70er-Prog-Rock schmeckendem Instrumentalpart, der live schon immer um ein Vielfaches knackiger, pompöser, mitreißender war als die Studioversion – ein 11-minütiges Meisterwerk, das vielleicht für die Pop-Fans ein sympathischer Einstieg in die englische Prog-Rock-Szene darstellen kann und allein deshalb zurecht auch auf dieser Tournee gespielt wurde, zumal es ja auf Platz 5 der beliebtesten Genesisstücke der it-Forum-Leser/Schreiber steht. Leider hat man das Lied nicht mehr so originell angekündigt wie auf der Mama-Tour 1983/84, als man das ganze Publikum „huuuuuuuuuu“ rufen ließ, live mysteriöse „Krimimusik“ spielte und auch die Möglichkeiten der Lichtanlage voll ausnutzte – eine sehr großartige Atmosphäre wurde damals erzeugt. 2007 ließ man das Publikum leider nicht mehr die Geister heraufbeschwören und das Stadion zum Schweben bringen. Hatte man Angst, sich lächerlich zu machen? Hat Genesis Angst nötig?
Eine tolle Idee war es, Follow You Follow Me mit Collins am Schlagzeug zu bringen. Das Album, auf dem das Lied erschien, war das erste, was die Band als Trio einspielte und markierte deutlicher wie nie zuvor die Hinwendung zur kommerzielleren Rockmusik. Mit dem Lied haben Genesis ihr Gesicht geändert, damit hat das zweite Leben der Band angefangen – Grund genug, dies nocheinmal gemeinsam als Musiker zu zelebrieren. Die Hintergrundanimationen, bestehend aus sich bewegenden Motiven von den Alben-Cover-Bildern, sind sehr gelungen, sie entwickeln mit dem Liebeslied (dessen Text nicht Phil Collins geschrieben hat, wie oft gemeint wird) eine süße, melancholisch-nostalgische Stimmung – und in gewisser Weise zeigt die Band (vielleicht auch unfreiwilliger Weise?) wiedereinmal, dass sie ihren abstrusen Humor mit Peter Gabriel nicht verloren hat, als sie zu zulässt, dass Henry von seinem Kindermädchen auf der großen Videowand geköpft wird (aus der Geschichte von The Musical Box, dargestellt mit den Umrissen der Figuren des Nursery Cryme-Covers, auf dem die Story erzählt wird).
Das folgende Lied wurde leider nur in einer kürzeren Instrumentalversion gespielt, trotzdem dürfte es einer der Höhepunkte der Tour für die Fans der alten Genesis sein, ergab doch die it-Forum-Umfrage, dass dieser Song, Firth of Fifth der zweitbeliebteste Genesis-Song ist (nur noch getoppt von Supper’s Ready). Auch wenn Collins etwas gequält beim Trommeln aussieht, die Stimmung ist gut, es macht den Musikern Spaß, und so macht auch das Zuhören Spaß, auch wenn das Publikum wohl nicht ganz versteht, warum man sich nicht lieber für That’s All entschieden hat. Die Trotzigkeit der Band ist und bleibt zu bewundern – sie versucht, das Publikum an die „good old days“ zu erinnern oder ganz einfach zu beweisen, dass man mehr kann als nur Radiohits zu schreiben. Ein Statement, dass auf der Tour zu We Can’t Dance nicht wirklich transportiert wurde. Sicher werden nur die Wenigsten nach dem 2007er-Konzert sich in die alten Genesis-Sachen reinhören und die Band in ihrer vollen Vielfalt kennenlernen wollen, aber zumindest hat man es versucht. Jeder „ganze“ Genesisfan darf sich mit den tollsten Worten über Menschen aufregen, die sich beschweren, dass die Turn It On Again– Tour kein Hitfeuerwerk war wie Collins Farewell-Shows.
Das anschließende I Know What I Like, der erste Single-Chart-Hit der Band, bringt das Nostalgie-Gefühl noch eine Stufe höher, dann nämlich, wenn Collins seine Tambourin-Nummer fast synchron bringt zu seinem Alter Ego auf der Videowand, der zu Beginn seiner Sänger-Karriere an der gleichen Stelle des Liedes mit dem Tambourin tanzt. Außerdem dürften ein paar alte Bilder aus dem schon etwas verstaubten Fotoalbum der Band den ein oder anderen Fan die Augen feucht machen. Sehr schön, dass die Band dieses Lied für den „little trip back“ benutzte und nicht etwa Fading Lightsvon 1991, weil dies wieder nur ein Rückblick aus dem Blickwinkel eines Dritten wäre. Mit dem 1973er Song wirkt die Nostalgie ehrlicher – und Collins zeigt noch immer seine Lust an dem Stück. Und der „ganze“ Fan freute sich sicher auch diesmal, als wie im Old Medley Anfang der 1990er eine Passage aus Stagnation (1970) am Schluss der Nummer zu hören war.
Mit Mama schafften Genesis einen der außergewöhnlichsten Charthits der 1980er. Die düstere Atmosphäre, die obsessive Lyrik, die schreckliche Lache, das wuchtige Schlagzeug – ein vortreffliches Beispiel für Rock-Pop mit Prog-Wurzeln. Collins schafft es noch immer, diese sehr düstere Seite der massentauglicheren Genesis glaubwürdig darzustellen – und wenn er sich auch eine ironische Distanz zu dem Song aufrecht erhält und er seine Lieder wie You’ll Be In My Heartoder No Way Out ernster nimmt: man sieht es ihm nicht an, er ist ein guter Schauspieler. Auf alle Fälle gehörte dieses Stück zu Recht in die Setliste, die Inszenierung ist sehr umwerfend, live auch noch ein Gänsehauterlebnis, wenn man der Studioversion vielleicht schon etwas überdrüssig ist.
Ripples darf als Geschenk für die Fans der „ganzen Genesis“ betrachtet werden. Es steht für sich, wurde nicht in ein Medley gepackt. Die Band demonstriert, dass sie ihre alten Stücke nicht zusammenstückeln, sondern in Reinform spielen will. Dies macht die Selbstpräsentation sehr ausgewogen. Collins singt es immer noch sehr schön, die Band spielt es sehr leicht, sehr virtuos: wieder einmal demonstriert man ganz selbstbewusst, dass es in der Discografie der Band eine Menge zu entdecken gibt: ein sehr geeignetes Lied, um Appetit auf die lyrischen, feinfühligen Genesis zu machen. Der Zuschauer, der eher wegen Phil Collins gekommen ist, mag sicher etwas irritiert sein bei solch einem Lied – eine sehr schöne Strafe.
Das sich zur Auflockerung anschließende Throwing It All Away stellt das Publikum in den Mittelpunkt. Während des ganzen Liedes werden viele einzelne Live-Aufnahmen der Zuschauer auf der Videowand abgebildet. „Das seid ihr!“ mag die Botschaft sein. Eine nette Geste, die wiedereinmal die Distanz zwischen Stars und Fans symbolisch zu verringern versucht, auch wenn es nicht zum Liedtext passt. Welche Wirkung es am Ende erzielt, kann nur der Einzelne entscheiden.
Mit Domino kommt ein weiteres Lied zu Ohren, dass Pop der 80er mit Prog der 70er versucht, zu verschmelzen. Und wieder werden einige der Pop-Fans enttäuscht sein, dass nichtmal zwei Hits aufeinander kommen. Auf alle Fälle ist es ein sehr gewaltiges, mitreißendes Stück, und wiedereinmal beweist die Band Mut, dieses Stück zu spielen. Schon längst ist klar, dass dies hier kein Phil-Collins-Konzert ist – und der Band scheint egal zu sein, dass die Radiofans von Sussudio und You Can’t Hurry Love etwas überfordert, vielleicht auch gelangweilt sein könnten.
Die Unterhaltung zwischen zwei Stühlen mit allmählichem Übergang ins Schlagzeugduet dürfte allen gefallen. Langweilig ist es wirklich nicht, es macht einfach Spaß, die Spannung und Steigerung zu beobachten: gute Musik hat nicht immer Text nötig oder Gitarren oder Keyboards. Wäre es so weltfern, einen instrumentalen Popsong zu schreiben, in dem nur zwei Schlagzeuger zu hören sind? Das Drum-Duet eröffnet dem Pop-orientierten Publikum einen neuen Musikhorizont – Collins und Thompson wollen begeistern, in Erstaunen versetzen und zugleich mit ihrer guten Laune anstecken: sehr richtig, dass man diese reine Schlagzeugkunst ins Programm mit aufnahm und so auch das Augenmerk auf den Rhythmus als das Skelett von Musik, auf das Trommeln als die primitivste, älteste Form der Tonkunst legt.
In kein anderes Lied als das majestätische Los Endos könnte das Drum-Duet münden. Ein vortrefflicher Prog-Rock-Klassiker, dessen heitere Dynamik die Band auf ihrer ganzen künstlerischen Höhe zeigt – nach 32 Jahren immer noch so ungewöhnlich lebendig und zeitlos, dass man sich nicht vorstellen kann, dass jemand völlig unberührt im Stadion steht und auf die nächste Nummer wartet. Hier fragt man sich mal wieder ganz bewusst: Für wen spielen die dort oben? Für die Zuschauer oder bloß für sich?
Das anschließende Tonight Tonight Tonight passt ganz und gar nicht ins Programm. Nach einem solchen Höhepunkt hätte man nicht eine belanglose Kurzversion des düsteren Epos der Invisible-Touch-Scheibe packen sollen: es wirkt so, als wollte man noch gegen Ende ein paar bekannte Lieder spielen, um die Popfans nicht so sehr zu verärgern. Das Lied drückt die bisher großartige Dramaturgie und dürfte allen, die nicht gerade Tonight Tonight Tonight zu ihren Top 5 zählen, etwas seltsam anmuten. Vielleicht hätte man hier nochmal ein Stück spielen sollen, dass man noch nicht live gespielt hat: die 1980er-B-Seite Open Door wäre hier recht interessant – ganz akustisch mit Rutherford an der Gitarre und Banks am Piano, oder More Fool Me nur mit Rutherford und Collins. Danach kann man es ja nocheinmal richtig krachen lassen…
Invisible Touch war sicher so unvermeidbar gewesen wie I Can’t Dance, zwei der unbeliebtesten Genesisstücke von allen, die die ganzen Genesis kennen – doch auch solche Pop-Hits gehören zur Geschichte der Band und wurden gespielt, was den Phil-Collins-Fans, von denen ja ganz sicher viele im Publikum waren, gegönnt sein mag, angesichts dieser Setliste. Das Feuerwerk am Ende von Invisible Touch ist allerdings recht übertrieben. Und ist Los Endos etwa nicht würdig genug dafür gewesen? Es ist zwar ein toller Effekt, aber er steht in einem relativ großen Missverhältnis zum textlichen und musikalischen Niveau des Songs.
Das Ritual, die Zuschauer nach Zugabe rufen zu lassen, wird auch auf diesem Konzert abgehalten, allerdings ist es nicht mehr als bedeutungslose Routine, ein kleiner Gag, der schon seit Jahrzehnten nicht mehr zündet – das Publikum wird sicher nicht den Verlauf einer detailliert geplanten Genesis-Show durch Zurufe beeinflussen. Die Leute erfüllen ganz einfach die Erwartung, „Zugabe“ zu schreien – und dies soll als Symbol dafür dienen, dass man allein für das Publikum spielt.
I Can’t Dance ist als erste Zugabe nun fast schon logisch – das kennt auch der jüngste Zuschauer. Gute Stimmung natürlich, lautes Mitgesinge, für viele sicher der Höhepunkt des Konzertes. Collins will nun das „I“ im Refrain nicht mehr lang ziehen, was das Lied ein wenig merkwürdig klingen lässt und das coole „öh-höm“ fehlt – warum auch immer – doch insgesamt ist auch diese Interpretation gut gelungen.
Als letztes Lied ein Stück aus der Gabriel-Ära zu nehmen, ist nun wieder einmal sehr mutig. Der Text ist völlig surreal, die Musik melancholisch-schwelgend und sehr kraftvoll zugleich, doch entlässt es die Leute auf jeden Fall nicht mit einer Partystimmung aus dem Stadion. Es ist ein Nachtisch speziell für die Fans, die The Lamb Lies Down On Broadway mögen, eine Relativierung der Pop-Genesis, ein lässiger Fingerzeig auf die kunstvollen Gabriel-Jahre, was der Prog-Fan als Entschuldigung für die 7 gespielten, reinen Popstücke sehen und annehmen darf.
3 Domino
„you’re the next in line“(Genesis, 1986)
Man hätte Einiges besser machen können, aber auch Vieles schlechter. Man hätte More Fool Me und ein-zwei Lieder spielen können, die noch nie auf einer Genesis-Setliste standen, man hätte No Son Of Mine und Tonight Tonight Tonight streichen können, Collins hätte zu Beginn der Songs etwas über die Titel sagen können und so die Liedaussage unterstreichen oder das ein oder andere Detail über die Entstehung des Songs loswerden können, man hätte ganz neue Videos zu den Liedern konzipieren können, um neue Blickwinkel auf die Kompositionen zu schaffen, ein paar Songs neu zu arrangieren hätte gezeigt, dass Genesis nicht bloß zu guten Wiederholungen tauglich sind, und wenigstens Calling All Stations hätten sie spielen können, um das gleichnamige Album als das zu betonen, was es sein sollte – ein Genesisalbum (Collins hätte dem Song bestimmt einen guten Strom geben können). Doch dies ist im Vergleich zu dem, was man hätte falsch machen könne, ein Geringes: eine reine Hits-Tour wäre kein würdevolles, kollektives Erinnern, sondern eine unehrliche, nahezu (selbst-)verlogene Inventur. Und vielleicht ist es gar nicht so selbstverständlich, dass die Musiker so locker und gut gelaunt wirken – dabei hätten sie der Tour ein ganz schlechten Beigeschmack gegeben, würden sie rüberkommen wie alte Rockopas, die nochmal ihre großen Hits spielen, ohne wirklich zu dem zu stehen, was sie machen. Zum Glück wirkt alles anders: es wirkt ehrlich, mit dem ein oder anderen Abstrich, wie oben erwähnt.
Leider hat man nun das Konzert auf 2 DVDs gesplittet, was das Live-Gefühl etwas schmälert. So scheint es mir, dass die DVD eher ein „Dokument“ ist als ein „Kunstwerk“. Als Kunstwerk sollte es ein volles Live-Gefühl entwickeln, die Texte, die Musik, die Inszenierung müssten sich in einer perfekten Symbiose befinden, welche mitreißt, das Herz berührt, die Wahrnehmung verändert, doch dies ist wie bereits geschrieben nicht mehr möglich, zumindest nicht mit dem Konzept dieser Tournee. Die DVD bleibt das Dokument einer Genesis-Nostalgie: die Texte sind nicht neu, die Musik ist nicht neu, die Inszenierung ist gewaltig, aber am Ende nicht mehr als Show. Der Anspruch von Peter Gabriel war, mit Genesis das Publikum in eine „völlig integrierte Phantasiewelt“ zu entführen, 35 Jahre später hat die Band nur noch den Anspruch, sich mit vielen Spezialeffekten als eine abwechslungsreiche Musikgruppe zu feiern. Nun, dies kann man der Band übel nehmen, vor allem, weil sie die Kunstlandschaft nicht wirklich mehr bereichert, sich nur noch passiv in die Kultur einbringt, sich anschauen lässt. Doch vielleicht regt sie neue, noch ungesehene, noch gut versteckte Musiker an, vielleicht vermag der Konzertfilm ein Lockruf sein in die tiefsten Untergrund-Labyrinthe, der ermutigen will, nicht den Glauben an anspruchsvolle Kunst zu verlieren und immer zu an dem großen, unbekannten Neuen zu arbeiten. „You’ve got to go Domino“ Vielleicht ist When In Rome eines der vielen letzten Worte der Rockmusik, bevor der „Kleine Hai, da-da, dada-da-da“ und der „Kleine Schnuffel“ in ein paar Jahren die europäische Kunstszene und genau den Bereich im menschlichen Herzen, der für Kunst empfänglich ist,.wie Metastasen zerfressen haben. Genesis sind die Spitze des „Rockmusik“-Eisberges, und die Dekadenz scheint ohne Erbarmen auf alle Künste der Menschheit. Kein Eisberg kann sich davor schützen. Es ist Zeit für etwas Neues. MTV beweist es jeden Tag, Viva auch, Youtube auch, MySpace auch, Led Zeppelin, Kanal Telemedial, KiKa, ein Blick in die Erfurter Straßenbahn, Hit Radio RTL, die Bildzeitung, Hollywood, und auch Genesis. Die Briten schaffen es nun aber, das Ende der Rockmusik würdig zu zelebrieren: unternehmen keine brutalen Peinlichkeiten, biedern sich nicht den immer kurzweiligeren Herzen der Jugend an, versuchen nicht mit Skandalen Aufmerksamkeit zu erregen, predigen keine Endlösungen, versuchen nicht cool zu sein, zeigen sich nicht nur von ihrer kommerziellen Seite … sie tun, was sie gut können und gern machen, sie spielen zusammen, erinnern sich gemeinsam an die guten, alten Zeiten, als Kunst mehr war als Mitgrölen, Rumtanzen, Fotosmachen und Saufen. Und man kann sicher auch nachfühlen, dass die Band nun glücklicher ist, dass die Turn It On Again – Tour, und nicht die Tour mit Ray Wilson der letzte Vorhang ist … Vorausgesetzt, dass es der letzte ist….
Autor: Tobias Müller