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Genesis – Calling All Stations- Die Non-Album-Tracks

Neben einem neuen Album veröffentlichte die Band 1997 und 1998 noch weitere sieben neue Tracks auf diversen Singles.

Wer sich beim Clubtag in Welkers analytisch mit dem hochinteressanten Songchart befasst hat, konnte dort so einige Hintergründe über die Calling All Stations-Songs „herausfieseln”. Insgesamt sieben Stücke, die nicht auf dem Album erschienen, sind mittlerweile erhältlich: Papa He Said und Banjo Man, Phret, 7/8, Anything Now, Sign Your Life Away und Run Out Of Time.

Papa He Said

Arbeitstitel: Tele
Musik: Banks/Rutherford
Text: Rutherford
Tonarten: B-Dur/A-Moll
Tempo: 114 beats per minute
Länge: 4:07 Min.

0:00 – 0:17: Intro (Tonart B-Dur), Gitarrenriff  Mike a
0:17 – 0:42: Tonartenwechsel nach A-Moll, Gitarrenriff Mike b, Gesangspart A
0:42 – 0:55: Gesangspart Ba
0:55 – 1:11: Gitarrenriff Mike b, Gesangspart A
1:11 – 1:37: Gesangspart Bb (= Ba stark harmonisch erweitert)
1:37 – 2:02: Gitarrenriff Mike b Gesangspart A
2:02 – 2:27: Gesangspart Bb
2:27 – 2:52: Intropassage (Tonartenwechsel auf B-Dur) + Gesang Ray
2:52 – 3:17: Tonartenwechsel nach A-Moll, Gitarrenriff Mike b Gesangspart A
3:17 – 3:25: Gesangspart Bc (= Bb harmonisch modifiziert)
3:25 – 4:07: Gitarrenriff Mike b Gesangspart A

Im bluesigen Papa He Said spielt Mike Rutherford im Stile des Stones-Urgesteins Keith Richards oder des Westernhagen-Gitarristen Jay Stapley. Etwas naheliegender ist die Zuordnung zu I Can’t Dance. Obwohl diese Stilistik wirklich alles andere als Genesis-typisch ist, sollte man nicht den Fehler machen Papa He Said vorschnell abzuurteilen. Ungewöhnlich und reizvoll sind die schräg klingenden Tonartenwechsel B-Dur/A-Moll/B-Dur/A-Moll und die unterschiedlichen Variationen von Gesangspart B, und für Wilsons Röhre sind derartige Songs allemal geeignet. Andeutungsweise, man glaubt es kaum, wagt sich Tony Banks sogar wieder einmal an einen Orgelsound heran. Der Schlagzeuger (es ist unklar, ob Nir Zidkyahu oder Nick D’Virgilio bei diesem Song trommelt) verwendet passagenweise eine (bei Genesis selten eingesetzte) Kuhglocke als Percussioninstrument. Auf dem Album hätte der Song möglicherweise wie ein Fremdkörper gewirkt, er hätte dort aber auch ähnlich wie Small Talk seinen Platz finden können.
Zu dem Text von Papa He Said lässt sich nicht viel mehr sagen, als dass irgend jemand von seinem Vater seltsame Anweisungen und Ratschläge erhält.

Banjo Man

Arbeitstitel: Banjo
Musik: Banks/Rutherford
Text: Wilson
Tonart: H-moll
Tempo: 97 beats per minute
Länge: 4:21 Min.

0:00 – 0:10: Intro Keyboard/Schlagzeug/Banjo (Mike? Tony ?) über Strophenharmonien
0:10 – 0:49: 1. Strophe
0:49 – 1:08: Refrain
1:08 – 1:47: 2. Strophe
1:47 – 2:07: Refrain
2:07 – 2:29: Zwischenteil
2:29 – 3:27: 3. Strophe
3:37 – 3:44: Zwischenteil
3:44 – 4:21: Wiederholung Intro + Gesang Ray

„Was ist das jetzt?” fragt man sich beim Erstgenuss von Banjo Man und rätselt gleichzeitig, ob ein Sample-Banjo von Tony Banks zu hören ist oder ob sich Mike Rutherford tatsächlich ein solches umgehängt hat. Allein schon für die Verwendung dieses Instruments, das  in der „Genesis-Familie”zuletzt als Sampling beim Phil Collins Song We’re Sons Of Our Fathers oder pur bei The Roof Is Leaking Verwendung fand, verdienen Genesis einen Mut-Bonuspunkt. Ähnlich wie man heute etwas hilflos mit Banjo Man umgeht, erging es wohl den Fans in den 70er Jahren mit Happy The Man – und was ist Happy The Man heute? Ein Kult-Song …

Ray Wilsons Gesang bei diesem eigentümlich-urigen Song erinnert an Colin Hay von Men At Work, jener Band von der anderen Seite der Erdkugel, die in den 80er Jahren mit Down Under einen Riesenhit hatte. Eines der Schlagzeugbreaks (bei 2:27) taucht identisch im Stück Congo (bei 3:03) auf, was darauf schließen läßt, daß Nir Zidkyahu hinter den Drums sitzt. Für Banjo Man gilt in noch extremerem Maße das gleiche wie für Papa He Said: Nicht unbedingt album-tauglich, aber allemal eine „B-Seite” wert, auch wenn man diesen Song nie und nimmer als Genesis identifizieren würde, wenn es nicht auf dem Cover stünde!
In diesem Lied geht es wohl um einen Straßenmusiker, der die Menschen mit einem bestimmten Song verzaubert und vom großen Durchbruch träumt. Die klare Deutbarkeit des Textes wird aber auch bei Banjo Man durch einige seltsame Zeilen erschwert.

Phret

Arbeitstitel: Fret
Musik: Banks/Rutherford
Tonarten: G-Moll/G-Dur
Tempo: 88 beats per minute
Länge: 4:06 Min.

0:00 – 0:59: Part 1, G-Moll, verhaltenes E-Piano, Drum Machine
0:59 – 1:42: Part 2, G-Dur, Bombast, echte Drums
1:42 – 2:42: Part 1
2:42 – 4:06: Part 2

Genesis Shipwrecked MaxiCD

Der Titel Phret dieses Instrumentalstücks ergibt sich daraus, daß Tony Banks jeweils in Part 2 einen Melodie-Sound wählte, dessen Klang einen bundlosen, sprich Phret-less Bass imitieren soll. Die korrekte, auch im Arbeitstitel benutzte Schreibweise wäre eigentlich „Fret” – aber erstens läßt sich das unter die Rubrik „Künstlerische Freiheit” einordnen, zweitens haben ja vielleicht auch die Briten eine Rechtschreibreform, und drittens: Wen kümmert’s?!

Zum ersten Mal in der Genesis-Historie steht ein Bass derartig im Vordergrund – wenn auch nur als Keyboardnachahmung, denn Rutherfords Beitrag beschränkt sich auf die akustische Gitarre, die, soundmäßig an Uncertain Weather erinnernd, jeweils in Part 2 eingesetzt wird.
Die verhaltenen, „molligen” E-Piano-Passagen (Part 1) stehen in einem wirkungsvollen Gegensatz zu den bombastischen Dur-Klängen im anderen Part dieses Stücks. Schade, dass Phret nicht über dieses demoartige Stadium hinaus zu einem fertigen Song ausgearbeitet wurde.

7/8

Arbeitstitel: Seven Eight
Musik: Banks/Rutherford
Tonarten: E-Moll, G-Dur, D-Moll
Tempo: 128 beats per minute
Länge: 5:09 Min.

0:00 – 0:27: Part 1a, 2x, E-Moll, verhaltene Gitarrenakkorde
0:27 – 0:40: Part 1b, 1x, G-Dur, + Keyboards
0:40 – 0:52: Part 1a, 1x
0:52 – 1:18: Part 1b, 2x
1:18 – 1:57: Part 2, G-Dur, + synthetisch klingendes E-Piano
1:57 – 3:28: Part 3, D-Moll, Bombast
3:28 – 3:54: Part 1a, 2x
3:54 – 4:20: Part 1b, 2x
4:20 – 5:09: Part 2

Zum Verständnis dieses Instrumentals trägt womöglich ein kleiner Exkurs in die oft langweilige, aber doch weiterhelfende Welt der Musiktheorie bei: Computerfreaks ist bestens bekannt, dass die Sprache dieser unglaublichen Maschinen ausschließlich aus 1- und 0-Botschaften besteht, egal, ob uns da nun Watcher Of The Skies oder Alle meine Entchen entgegentönt – kaum fassbar! In der Rhythmik sieht die Sache ähnlich aus: Es gibt in der Musik ausschließlich Zweier- und Dreierrhythmen, die sich beliebig verbinden lassen. Für unsere Ohren klingt alles vertraut, was sich im Zweiviertel- und Vierviertel-Bereich abspielt, auch einen Dreiviertel-Takt (z. B. Walzer) würde wohl jeder als vertraut beurteilen und problemlos mitklatschen.

Die sogenannten „schrägen Takte”, z. B. Fünfviertel, Siebenviertel, Neunviertel usw. (wobei aus Vierteln je nach Notation z. B. Achtel werden), erlebt unser Rhythmusgefühl, wie die Bezeichnung bereits ausdrückt, als schräg, als bizarr und ungewöhnlich – und genau das macht den Reiz dieser Takte aus, die in den 70er Jahren bei Genesis bis zum Duke-Album zur Tagesordnung gehörten und sich bei Progressive-Rock-Bands wie Marillion, IQ oder Spock’s Beard zum Entzücken ihrer Fans großer Beliebtheit erfreuen. Im Genesis-Kontext war es zuletzt Tony Banks, der sich auf dem Strictly Inc.-Album bei Something To Live For eines ungeraden Taktes bediente.

Wie raffiniert sich mit „schrägen Takten” musizieren lässt, ist zum Beispiel bei The Cinema Show (Siebenachtel-Takt) oder im sechsten Teil von Supper’s Ready, Apocalypse In 9/8, in Vollendung hörbar. Parallele zu 7/8: auch bei diesem Abschnitt des Genesis-Monumentalwerks von 1972 tauchte der Takt im Titel auf.

7/8 ist wohl das interessantere der beiden Non-Album-Instrumentals. Ähnlich wie bei Phret gelingt in 7/8 das dynamische Spiel, das vor allem in der Dichte des dritten Teils, der gegen Ende an Alien Afternoon erinnert, seinen Höhepunkt erfährt. Schlagzeuger Nick D’Virgilio, auf dem Album eher schaumgebremst am Werk, darf in diesem Stück so richtig loslegen!

Mehr noch als Phret wirkt 7/8 wie ein allerdings bereits perfektes Playback, das geradezu noch gesangliche Vollendung fordert. Dieses Stück hätte fertiggestellt ein Genesis-Klassiker der 90er Jahre werden können – schade.  

Anything Now

Arbeitstitel: Big Boy
Musik: Banks/Rutherford
Text: ?
Tonarten: H-Dur, H-moll
Tempo: 104 beats per minute
Länge: 6:58 Min.
0:00 – 0:55: Intro mit Refrain ab 0:20, H-Dur
0:55 – 1:50: 1. Strophe, H-Moll
1:50 – 2:26: Refrain
2:26 – 3:12: 2. Strophe
3:12 – 3:48: Refrain
3:48 – 5:45: Instrumentalteil, H-Moll:
    3:48 – 4:06: Arpeggio Mike
    4:06 – 5:08: CP-70-Solo Tony
    5:08 – 5:26: Strophen-Riff Mike
    5:26 – 5:45: „Gefiepe” Tony
5:45 – 6:21: Refrain
6:21 – 6:58: Schluss (Refrainteil) + additional keyboard

Anything Now beginnt mit einem Mechanics-artigen Gitarrenriff. Der Refrain setzt kurz darauf nahtlos ein, was dem Stück einen direkten, glatten Einstieg gibt.

In den Strophen spielt Rutherford einen funkigen Gitarrenriff, der leicht an eine Passage von Second Home By The Sea (vgl. dort 1:49-1:58) erinnert. Die Melodie zur Textpassage „But then sometimes …” klingt stark nach Tony Banks solo.

Der instrumentale Mittelteil mit seinem leichten „Swing/Shuffle-Feeling” überrascht durch ein Yamaha-CP-70-E-Piano-Solo von Banks, das zwar die Musikwelt nicht aus den Angeln hebt, aber gerade zu Beginn durchaus seinen Reiz hat. Zu erwähnen sind noch diverse Klangeffektgimmicks, die man bei genauem Hinhören im Hintergrund des Songs identifizieren kann.

Insgesamt unterscheidet sich Anything Now durch seinen eher unbeschwerten, optimistischen Sound von der Stimmung der meisten anderen Songs aus der Calling All Stations-Phase.

Der Song handelt von einem Menschen, der mit seinem Dasein im Grunde ganz zufrieden ist, doch es kann von einem Moment auf den anderen zu einer einschneidenden Veränderung kommen, so daß nichts mehr sein wird wie es vorher war, aber „anything now could be there for you” – alles ist jetzt möglich!

Sign Your Life Away

Arbeitstitel: Fuzz Intro
Musik: Banks/Rutherford
Text: ?
Tonarten: G-Dur, H-Moll
Tempo: 121 beats per minute
Länge: 4:44 Min.
0:00 – 0:27: Intro, G-Dur
0:27 – 1:03: 1. Strophe, H-Moll
1:03 – 1:11: Zwischenspiel, G-Dur
1:11 – 1:46: Refrain, G-Dur
1:46 – 2:21: 2. Strophe
2:21 – 2:29: Zwischenspiel
2:29 – 3:05: Refrain
3:05 – 3:28: Mittelteil A mit Gesang
3.28 – 3:44: Mittelteil B, Gitarrenriff Mike mit Calling All Stations-Sound + Soundeffekten
3:44 – 4:44: Refrain

Sign Your Life Away ist ein wuchtiger, für Genesis-Verhältnisse fast schon aggressiver Song mit Heavy-Einstieg, dessen Sound Assoziationen zu 70er-Jahre-Pop-Bands wie z. B. The Osmonds (Crazy Horses) heraufbeschwört.

Mikes Gitarrenspiel während der Strophen erinnert stark an Andy Summers im Police-Oldie Roxanne. Auch im Schlagzeugspiel (is it Nick or is it Nir?) lassen sich Ähnlichkeiten zu Police-Drummer Stewart Copeland, der unter anderem auch auf Mikes Album Acting Very Strange trommelte, feststellen.

Der zweigliedrige Mittelteil lässt in der ersten Passage durch eine originell verschobene Rhythmik aufhorchen, wonach Mike den markant-verzerrten Sound des Album-Titelstücks ein zweites Mal zum Einsatz bringt.  

Die heftige Sound-Basis der Refrains wird erweitert durch einen Keyboard-Sound, der Kindheitserinnerungen weckt: Wer hat nicht mit einem dieser bunten, schnell durch die Luft gewirbelten Plastikwindrohre die Nerven der Erziehungsberechtigten strapaziert?

Im von Ray Wilson mitunter wütend gesungenen Text geht es wohl um leere Versprechungen eines Politikers, der Menschen mißbräuchlich dazu animiert, ihr Leben in seine Hände zu legen, um dieses Vertrauen anschließend gründlich zu mißbrauchen und viel Leid zu erzeugen. 

Run Out Of Time

Arbeitstitel: Chicago Sax
Musik: Banks/Rutherford
Text: ?
Tonarten: G-Moll oder B-Dur
Tempo: 100 beats per minute
Länge: 6:08 Min.
0:00 – 0:33: Intro mit Synthie-Saxophon, G-Moll
0:33 – 1:16: 1. Strophe, B-Dur
1:16 – 1:54: Refrain, G-Moll
1:54 – 2:37: 2. Strophe
2:37 – 3:15: Refrain
3:15 – 4:46: Mittelteil filmmusikartig
   4:03: kurzer Refraingesang Ray
   4:13: Synthie-Saxophon-Solo (ähnlich wie Intro)
4:46 – 5:28: 3. Strophe
5.29 – 6:08: Refrain

Run Out Of Time verbreitet im Intro mit seinem etwas ärmlich imitierten Keyboard-Saxophon eine leicht jazzige Atmosphäre. Ray Wilson legt seinen klagenden, hie und da an Peter Gabriel, aber auch Bono (U2) erinnernden Gesang über sowohl in Strophe als auch Refrain wunderschöne bis bizarre Akkorde. Vor allem der harmonisch ungewöhnlich klingende Übergang von Strophe zu Refrain sei besonders erwähnt. Gelungen ist auch der soundtrackartige Mittelteil. Gitarre, Schlagzeug (Nir Z) und die kaum hörbaren Drum-Machine-Tablas spielen während des gesamten Stücks sehr zurückhaltend.

In dem mysteriösen, für Nicht-Engländer schwer heraushörbaren Text geht es um einen Menschen, dem, in welchem Kontext auch immer, die Zeit davonläuft, dessen Liebe und Tränen versiegen. Bei diesem tollen Song, der in seiner Ur-Version übrigens nur 4:40 Minuten dauerte, sei nun wirklich die Frage erlaubt, warum er nicht, wie wohl ursprünglich geplant, seinen Weg auf das Album fand: Ein Juwel als Non-Album-Track … 


Mit Nowhere Else To Turn (Arbeitstitel: Rosin/Cold Winters Nite) gibt es noch einen komplett fertigen, aber leider bisher unveröffentlichten Song, der wohl auch in den Schubladen verschimmeln wird, da keine weiteren Single-Veröffentlichungen zum letzten Album mehr geplant sind. Daneben existieren mehr oder weniger unfertige Songs oder Songfetzen mit den Arbeitstiteln Soft Delight und Scotties.

Aus dem Songchart läßt sich des weiteren bei (im wahrsten Sinne) ganz naher Betrachtung ein dreiteiliges Demo entschlüsseln: Groan Pt. 1, Groan Pt. 2/Katmandu (daraus wurde Calling All Stations) und Groan Pt. 3/Fast Echo.

Autoren: Bernd Vormwald+ Steffen Gerlach