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Genesis – Calling All Stations – Rezension

Im September 1997 erscheint das neue Studioalbum von Genesis – ohne Phil Collins, aber mit Ray Wilson

Treffen der Generationen auf dem neuen Genesis-Album Calling All Stations

Seit dem Collins-Ausstieg im März 1996 ging eine ganze Lawine von Spekulationen bezüglich der Genesis-Zukunft über die Fans hernieder, sowohl was die Besetzung als auch was die musikalische Richtung betrifft. Was wurde da nicht alles geredet, geschrieben und „geinternettet”. Namen wie Peter Gabriel, Steve Hackett, Fish, Paul Carrack, Chester Thompson oder Daryl Stuermer wurden gerüchteweise gehandelt, von Rückkehr zur 70er-Jahre-Stilistik war die Rede. Oft war aber mehr der Fan-Wunsch Vater der Gedanken.

Nun halten wir sie endlich in unseren Händen, die tatsächliche Zukunft bzw. Gegenwart von Genesis! Statt der oben genannten Personen bildet eine Handvoll Musiker das neue Studio- und Live-Line-up, die bislang nie im Zusammenhang mit Genesis auftauchten, und die musikalische Richtung bewegt sich irgendwo zwischen den Genesis von We Can’t Dance, Strictly Inc. und Mike + The Mechanics. Auf Calling All Stations findet man komplexe Songs (z. B. Alien Afternoon, The Dividing Line), einfache Songs (z. B. Shipwrecked, Not About Us) und Songs, die irgendwo dazwischen liegen (z. B. Uncertain Weather, Congo)

Tempomäßig bewegen sich die elf Album-Songs (+ bislang zwei Single-Bonus-Tracks) bis auf die etwas flotteren The Dividing Line und Papa He Said (Non-Album-Track) im mittleren Bereich.

Um es vorwegzunehmen: Mit Calling All Stations gelang Genesis eine „Sickerplatte”, die sich im Wohlgefallen nach mehrmaligem Hörgenuss und mit wachsender Vertrautheit Stück für Stück, bei manchen Songs sogar bis hin zur Begeisterung, entwickelt, was nicht nur daran liegt, daß man bei neuerlichem Hören nicht mehr die Erwartungen hat wie beim „first contact”, daß man nicht mehr auf schräge Takte, Rhythmuswechsel oder spektakulären Instrumenteneinsatz hofft. Der Reiz der einzelnen Stücke entfaltet sich nach und nach, und man ertappt sich dabei, wie man erste, vielleicht vorschnelle Urteile über Calling All Stations zunehmend revidiert.

Es war für das Gespann Banks/Rutherford mit dem Collins-Ausstieg an der Zeit, die bei Konzerten erkennbare Leichenstarre zu überwinden und mit neuem Hunger, Elan, Engagement und unverbrauchten Mitstreitern zu zeigen, daß das Genesis-Schiff auch ohne Steuermann Collins auf den musikalischen Weltmeeren bestehen kann. Calling All Stations hebt zwar die Welt nicht aus den Angeln, ist vielleicht auch kein neuer Meilenstein in der Genesis-Historie, der es verdienen würde, in einem Atemzug (je nach subjektivem Geschmack) mit Alben wie Foxtrot, A Trick Of The Tail, Seconds Out oder Abacab genannt zu werden, dem 28jährigen Jungspund Ray Wilson (dem neuen Sänger und dreimaligen Co-Songwriter) ist es aber durchaus gelungen, dem Patienten Genesis neues Leben einzuhauchen

Genesis brauchen, wen wundert’s, in der veränderten Zusammensetzung sicherlich noch etwas Zeit, um neu zu sich zu finden, die Lücke, die Phil Collins hinterließ, ist noch spürbar. Man vermißt hie und da seinen Melodienerfindungsreichtum, sein Gespür für knackige und geschmackvolle Schlagzeugbeiträge (Spiel, Produktion), seine rhythmischen Einfälle und seinen Groove, der eine sehr wichtige Zutat für das Genesis-Menü darstellte, und, last but not least, seinen Humor. Sänger Ray Wilson, die neuen Drummer Nir Zidkyahu und Nick D’Virgilio und die drei Produzenten Nick Davis, Tony Banks und Mike Rutherford versuchen diese Lücke zu schließen – ob es immer gelingt, sei dem subjektiven Urteil des geneigten Hörers überlassen.

Die Situation ist eher vergleichbar mit dem Weggang Steve Hacketts nach Wind & Wuthering, als mit dem von Anthony Phillips nach Trespass oder von Peter Gabriel nach The Lamb Lies Down On Broadway. Warum? Nursery Cryme und vor allem A Trick Of The Tail wurden runde, ausgegorene Alben, von den einschneidenden Besetzungswechseln war im Grunde nichts zu bemerken. Auf And Then There Were Three hingegen orientiert sich Rutherford noch an Hacketts Leadgitarrenstil. Trotz der teilweise großartigen Stücke und obwohl Mikes Gitarrenspiel hier mit zum Besten gehört, was er auf diesem Instrument auf Alben verewigt hat, ist And Then There Were Three eher ein Übergangsalbum zu Duke, auf dem die Ablösung von Hackett vollzogen war und Genesis sich neu gefunden hatten. Möglicherweise spielt Calling All Stations eine ähnliche Rolle.

Ablösung hin, Ablösung her: Ray Wilson (Ex-Stiltskin) hinterlässt auf dem neuen Album einen ausgezeichneten Eindruck. Es ist erfreulich, dass Genesis einen Sänger gefunden haben, der weder Collins noch Gabriel imitiert. Wenn der Vergleich mit seinen Vorgängern unbedingt sein muß, dann ist sicher eher eine Ähnlichkeit mit Gabriel als mit Collins zu entdecken (z. B. am Ende von Small Talk). Wilson versteht es, die Wandlungsfähigkeit seiner Stimme geschickt einzusetzen. Seine Palette reicht vom gefühlvollen Gesang bei Uncertain Weather bis zum „Shouten” bei There Must Be Some Other Way. Er klingt wie eine Mischung aus (Achtung, jetzt kommt’s) Alistair Gordon, Jack Hues, Kim Beacon, Noel McCalla (z. B. bei Uncertain Weather), Tony Banks (z. B. im Schlussteil von Congo), Bryan Adams (bei Not About Us), Peter Hammill, Bono, Colin Hay von Men At Work (z. B. bei Banjo Man), Francis Dunnery von It Bites (z. B. am Ende von One Man’s Fool) und Paul Carrack („in seiner Art zu singen” meint Steffen) – gibt’s noch mehr Assoziationen zu bieten? Vorschläge bitte an die it-Redaktion! Tony Banks neigte ja bereits bei seinen Solo-Platten zu Sängern, die ähnlich klingen wie er, mit dem Unterschied, daß sie im Gegensatz zu Banks singen können (und Calling All Stations klingt auch teilweise wie eine Banks-Solo-Platte mit Rutherford-Einflüssen). Ray Wilson singt mit sehr viel Seele, und man kann sich seine Stimme zu vielen „alden, alden Schduggen und neuen Schduggen” vorstellen; als Beispiel seien mal The Knife oder Mama genannt. Da Wilson erst in einem fortgeschrittenen Stadium des Songwritings zur Band stieß, war er kaum ins Komponieren involviert. Es ist davon auszugehen, daß dies beim nächsten Album anders sein wird, was ein wichtiger Schritt zur oben beschriebenen Neufindung sein wird. – Wer noch daran zweifelt, daß Ray Wilson ein absoluter Glücksfall für Genesis ist, der höre sich Lover’s Leap (Supper’s Ready Part 1), Turn It On Again und No Son Of Mine vom Acoustic Set am 26.8.97 in Berlin an. Der Schreiber dieser Zeilen, bekannterweise ein Collins-Fan, saß begeistert und glücklich vor seinem Fernseher, vermisste Phil keinen Augenblick (seltsam war es bloß, wenn die alten Videos liefen) und zerschlug letzte Zweifel: Ray ist der richtige Mann! All I needed was a TV-Show …

Die neuen Schlagzeuger Nir Zidkyahu und Nick D’Virgilio (Stück 6, 8, 9 und erste Hälfte Stück 4) spielen solide und klingen in manchen Stücken fast wie Phil Collins. Nir Zidkyahu, in Israel geboren und in den USA lebend, ist bisher ein recht unbeschriebenes Blatt. Am auffälligsten erweist er sich bei The Dividing Line und Alien Afternoon als „guter Mann”, aber auch bei Songs, in denen er nicht ganz zeigen kann, was er „drauf hat”, läßt sich an einigen Feinheiten und im Gesamteindruck (Groove, Präzision) seine Klasse erkennen. Über die herausragenden Drummer-Fähigkeiten Nick D’Virgilios konnte man sich bereits auf den beiden (übrigens überaus empfehlenswerten) Alben von Spock’s Beard überzeugen. Es ist auf jeden Fall ein Manko, dass keiner der beiden Drummer festes Bandmitglied und somit am Prozeß des gemeinsamen Komponierens beteiligt ist. Es würde dem zukünftigen Songwriting z. B. im Bereich Rhythmik sicherlich nicht schaden, wenn sich in diesem Punkt auf zu erwartenden weiteren Genesis-Alben etwas entwickeln würde, es ist jedoch eher mit dem Gegenteil zu rechnen.

Und was macht unsere „Altherren-Riege”? Sie versteht es nach wie vor, stilistisch einzigartige Songs zu schreiben! Tony Banks liefert wie immer einige interessante harmonische Leckereien, spielt aber insgesamt recht verhalten, meist flächig, selten rhythmisch. Seine Keyboard-Soli sind unspektakulär und mitunter etwas fad, er vermag jedoch immer wieder interessante Atmosphären zu zaubern. Bei seinen verwendeten Keyboardsounds setzt Banks als Basis in allen (!) Songs auf „Strings” (Streicher) und verzichtet auch dieses Mal mit Ausnahme von Papa He Said auf Klavier-Sounds und bis auf andeutungsweisen Einsatz (z. B. bei One Man’s Fool und eindeutiger bei Banjo Man) auch auf die Orgel. Schade …

Rutherford spielt auf Calling All Stations teilweise ungewohnt heavy (z. B. im Titelsong oder bei The Dividing Line) und setzt häufig auf sein bewährtes „Ticketickeding-tickeding-ticketickeding”. So schön das auch klingen mag – auf die Dauer wird’s langweilig. Ansonsten entpuppt er sich auch diesmal als eher durchschnittlicher Leadgitarrist, der nicht mehr die Klasse erreicht, die er auf Alben wie Smallcreep’s Day, Duke oder And Then There Were Three schon einmal hatte (Motto: Warum die anderen fünf Saiten benutzen, wenn ich auf einer erst mal einen richtigen Ton gefunden habe!). Auf der anderen Seite hat er einen eigenen unverwechselbaren Stil, spielt seine griffigen Riffs, wie er es selbst einmal bezeichnete, mit viel „feel”.

Auf dem Gebiet Arrangement und Dynamik im Spiel waren Genesis schon immer Könner – daran ändert sich auch auf Calling All Stations nichts. Es macht wirklich Spaß, sich dieses neue Album einmal unter diesem Aspekt anzuhören.

Bei allem Lob (naja, war eigentlich gar nicht so viel Lob) darf nicht unerwähnt bleiben, dass Banks und Rutherford auch auf Calling All Stations zu wenig aus ihren Möglichkeiten machen. Etwas mehr Experimentierfreude und musikalischer Forscherdrang würden Genesis guttun. Sie setzen routiniert und gekonnt auf Bewährtes, die ganz großen Innovationen und Experimente bleiben jedoch weitestgehend aus.

cover

Für die Produktion ist (unterstützt von Banks und Rutherford) Nick Davis verantwortlich, der z. B. schon bei We Can’t Dance, beiden The Way We Walk-Livealben oder den Banks-CDs Still und Strictly Inc. mit an den Reglern saß. Manchmal ist der Gesang etwas leise abgemischt, ab und zu ist die Snare zu laut; ansonsten ist die Produktion in Ordnung, und nach mehrmaligem Hören fallen einem die anfänglich wahrgenommenen Schwachstellen kaum mehr auf. Aufgenommen wurde Calling All Stations wie alle Genesis-Alben seit Abacab in „The Farm, Surrey”, deren typischer etwas mulmiger Sound auch auf der neuen Produktion wahrnehmbar ist.

Das interessante Cover (von Wherefore ART?) ziert eine Person inmitten von „wellenartigen” Lichtkreisen. Diese Stilistik, die interpretativ viele Möglichkeiten offen läßt, zieht sich in Variationen durch das komplette Booklet. Die Basis für das Cover-Artwork bildete wohl, passend zum Albumtitel, der Text von Calling All Stations, aber auch andere Lyrics, wie z. B. von Shipwrecked, Alien Afternoon oder The Dividing Line, finden darin passagenweise Ausdruck.

Calling All Stations

Arbeitstitel: Katmandu
Musik: Banks/Rutherford
Text: Rutherford
Tonart: E-Moll
Tempo: 88 beats per minute

0:00 – 0:33 = Intro Gitarrenriff Mike, Strings (= Streicher) Tony
0:33 – 1:22 = Gesangspassage A, Halbes Gitarrenriff Mike
1:22 – 1:47 = Gesangspassage B, Gitarrenriff Mike
1:47 – 2:52 = Gesangspassage C
2:52 – 3:30 = Zwischenspiel, „Das Boot”-artige Effekte Tony, Begleitriff Mike Strings, Harmonien Tony Einzelne Gitarrentöne + halbes Gitarrenriff Mike
3:30 – 3:54 = Gitarrensolo Mike
3:54 – 5:43 = Gesangspassage A (harmonisch modifiziert und erweitert)

Die CD Calling All Stations beginnt mit dem Titelstück, dem absoluten Hammer auf dem neuen Genesis-Album. Mike Rutherford spielt ein rotziges, „heavymetaliges”, mehrmals einsetzendes Gitarrenriff, Tony Banks zaubert mit einem Füllhorn an interessanten Harmonien eine düstere, hoffnungslose Atmosphäre, und Ray Wilson legt seinen verzweifelten, leidenschaftlichen Gesang darüber. Das monotone Schlagzeug unterstreicht die depressive Stimmung dieses Stücks. Spätestens beim Übergang vom Gitarrensolo zur Gesangspassage C überkommt einen diese spezielle Genesis-Gänsehaut, die während der kompletten, bombastischen Schlußphase nicht weicht, auch wenn der Gesang dort einen Tick zu leise abgemischt wurde. Manko: Als man gerade voll in das Banks-typische Klangbett eingetaucht ist, folgt ein grauenhaftes Fade-Out, als würde man einen Hektoliter Silberbronze über ein wundervolles Gemälde kippen. Man kann nur hoffen, daß Calling All Stations in einer „full length version” als Single veröffentlicht und bei den Konzerten richtig ausgespielt wird.

Calling All Stations, das übrigens bereits bei der ersten Writing-Session für das neue Album geschrieben wurde, erinnert etwas an No Son Of Mine, was durch Rutherfords Achtel-Bass, das bewußt einfach gehaltene, wuchtige Schlagzeug und möglicherweise durch die identische Tonart (E-Moll) bewirkt wird. Durch den monumentalen Schlußteil liegt auch die Assoziation zum ’83er Klassiker Mama sehr nahe.

Calling All Stations (frei übersetzt: „Notruf an alle”) ist eine Momentbeschreibung. Es geht um eine Person, die mit ihrem Lebensungeschick hadert und sich psychisch und körperlich in einer extrem unbehaglichen Situation befindet.

Textauszüge:

Ich habe komplett die Orientierung verloren
Ich beobachte die Dunkelheit, die mich umschließt
Ich fühle die Kälte, die meinen Körper durchzieht […]
Ich fühle, wie mein Wahrnehmungsvermögen immer schwächer wird
Da ist ein Kribbeln in meinen Armen
Und ein taubes Gefühl in meinen Händen […]
Ich vergegenwärtige mir all die vergeudeten Augenblicke meines Lebens,
All die Dinge, die ich für gewöhnlich tat
Warum wird mir erst jetzt, jetzt wo es zu spät ist,
Bewusst, was mir wirklich wichtig ist?
Warum wird mir erst jetzt klar,
Dass ich alles, was mir lieb und teuer ist,
So leicht hätte ergreifen können?


Congo

Arbeitstitel: Congo
Musik: Banks/Rutherford
Text: Banks
Tonarten : H-Moll, E-Dur, G-Dur
Tempo: 95 beats per minute

0:00 – 0:45 = Ethno-Intro (H-Moll) (nicht harmonisiert) Melodieeinsatz Tony (nicht harmonisiert) Harmonieeinsatz Tony (Akkordeon-Sound)
0:45 – 1:27 = (Synthie?)-Gitarrenquinten (Tonarten- wechsel auf E-Dur) 1. Strophe
1.27 – 1.47 = Refrain
1.47 – 2:15 = 2. Strophe
2.15 – 2:35 = Refrain
2:35 – 3:05 = Mittelteil Harmonien Mike/Tony (Tonartenwechsel auf G-Dur) Gesang Ray
3:05 – 3:45 = Refrain (2x) (Tonartenwechsel auf E-Dur)
3:45 – 4:05 = Keyboardsolo Tony („Quäk-Sound”) über Intro-Harmonien
4:05 – 4:50 = Schlußpassage Gesang Ray über Intro-Harmonien (der nicht harmonisierte Teil des Intros wird hier harmonisiert)

Congo, eine Art Slow-Lambada mit gabrielesquem Busch-Intro, bietet mit seiner positiven Atmosphäre einen Kontrast zum düsteren Opener Calling All Stations. Das Ganze riecht von Anfang an nach Hit (vor allem der Refrain inclusive live-mitsing-tauglichem „yeah-ea-eah” geht total ins Ohr), ist aber für die hundertprozentige Radiotauglichkeit dann doch wieder zu sperrig. So „fehlt” z. B. in den Strophen jeweils ein Takt, was denselben eine (ohne Analyse nur unterbewusst wahrgenommene) raffinierte, wohltuende Ungeradlinigkeit verleiht.

Wenn man den Text nicht kennt, neigt man spontan dazu, das Stück in die humoristische Genesis-Ecke à la Illegal Alien / Jesus He Knows Me / I Can’t Dancezu stecken! Der Text steht jedoch im Gegensatz zu der eher fröhlichen Musik: Ein Mann fordert seine Noch-Lebensgefährtin auf, ihn doch (bitte ankreuzen)

o in die Wüste zu jagen, oder
o auf den Mond zu schießen, oder
o dorthin zu schicken, wo der Pfeffer wächst,

wenn sie ihn nicht mehr haben will. Er zeigt sich zwar durchaus einsichtig, bringt aber zum Ausdruck, was sie für ihn immer bedeutet hat, und läßt zwischen den Zeilen und in seiner Art sich auszudrücken erkennen, daß er eigentlich gar nicht gehen will.

Textauszüge:

Schick mich in die Wüste, ich bin frei und kann verschwinden
Es gibt immer einen Ort, wo man hingehen kann […]
Du gewannst mein Herz
Und gabst meinem Leben eine komplett neue Bedeutung
Du brachtest Licht in meine Welt
Ich dachte, es würde niemals erlöschen […]
Ich würde niemals behaupten, es gebe keine Gründe,
Mich sonstwohin weit, weit fort zu wünschen
Aber eines Tages wirst du vielleicht verstehen und erkennen,
Dass ich für dich immer mein Leben hergegeben hätte.

Zum Keyboardsolo von Tony Banks meinte Kultfreund „Brazilian” Steffen Gerlach: „Da hätt’ ich e’ besseres Solo g’spielt!” Congo hätte, wie so manches Stück auf dieser CD, auch seinen Platz auf einer Banks-Solo-Platte finden können; in der Schlusspassage klingt Ray Wilson wie Tony Banks (vgl. z. B. Man Of Spells von The Fugitive). Die Breaks des auch in diesem Stück sehr Collins-artigen Schlagzeugs erinnern in der ersten Strophe an No Son Of Mine(„daff-daff”), die laute Abmischung der Snare im soften Mittelteil nervt. Zu erwähnen ist noch ein Genesis-typisches Element im Refrain: Der Bass-Grundton (Orgelpunkt, Bordunton), in diesem Fall ein E, der allen Harmonien unterlegt wird – klingt immer wieder gut! Wie bei Calling All Stations fällt auch bei Congo eine Ausblendung ohne Einfühlungsvermögen negativ ins Gewicht.

Die Singleversion bietet statt der wünschenswerten „extend-ed Version” einen verhackstückten Edit, also eine verkürzte Neubearbeitung, die dem Song seinen Charme nimmt und beim Versuch, ihn auf 08/15-Radiotauglichkeit zu trimmen, völlig ruiniert – Finger und Ohren weg davon!


Shipwrecked

Arbeitstitel: 1965
Musik: Banks/Rutherford
Text: Rutherford
Tonart: Fis-Dur
Tempo: 86 beats per minute

0:00 – 0:41 = Intro Gitarrenriff Mike („Transistorradiosound”) / Gitarrenriff Mike/Refrain-Strings-melodie Tony
0:41 – 1:03 = 1. Strophe
1:03 – 1:25 = Refrain
1:25 – 1:47 = 2. Strophe
1:47 – 2:31 = Refrain (2x), in der Wiederholung melodiös erweitert und im Arrangement gesteigert
2:31 – 2:54 = Mittelteil Gesang Ray
2:54 – 4:23 = Schlußrefrain Stringsmelodie Tony Gesang Ray

Nach dem an Pink Floyds Wish You Were Here erinnernden Transistorradiointro entwickelt sich mit Shipwrecked ein relativ harmloses Liedchen aus der Ecke Walls Of Sound/Taken In. 4 Minuten und 23 Sekunden lang passiert eigentlich gar nichts, der Song plätschert so dahin. Rutherfords Gitarre fällt bis auf das nette Intro-Riff eigentlich gar nicht auf, und Banks steuert eine hübsche sich häufig wiederholende Keyboardmelodie bei und bringt im Schlußrefrain bei 3:42 einen kurzen gezogenen Keyboard-Gimmick unter. Originell ist Mikes Achtel-Baß im Intro, bzw. im Refrain: Beim Harmoniewechsel von Fis-Dur auf H-Dur wechselt der Baß erst eine Achtel später, wodurch diese Passage interessanter wirkt.

In Shipwrecked fühlt sich ein Mann wie ein Schiffbrüchiger, wie ein abhängiger Spielball in den Händen seiner Auserwählten.

Zusammenfassende Textauszüge:

Warum sagst du, du willst mit mir zusammen sein
Und am nächsten Tag wieder das Gegenteil? […]
Du weißt, deswegen fühle ich mich wie ein Schiffbrüchiger
Eine Million Meilen von irgendwo entfernt
Ich bin hilflos und alleine, ich treibe auf’s Meer hinaus
Ich verliere die Peilung
Bitte komm’ und rette mich.

Shipwrecked hat zwar wohl lediglich das Format „Bonustrack B-Seite”, und man neigt anfangs dazu, den Song mit dem Prädikat „langweilig” zu versehen, und doch setzt er sich nach und nach in den Gehörgängen fest und entfaltet in seiner Einfachheit einen gewissen Reiz. Ähem, von wegen „Bonustrack B-Seite”: Shipwrecked wird die zweite Single sein …


Alien Afternoon

Arbeitstitel: Paris
Musik: Banks/Rutherford
Text: Banks
Tonarten: D-Moll/D-Dur
Tempo: 77 beats per minute

0:00 – 0:54 = Atmosphärisches Intro Strings Tony
0:54 – 1:40 = Strophenintro reggaeartiger Rhythmus 1. Strophe
1:40 – 2:05 = Gesangsbridge
2:05 – 2:26 = Refrain Keyboardmelodie Tony (Abacab-ähnlicher Sound)
2:26 – 3:03 = 2. Strophe
3:03 – 3:28 = Gesangsbridge
3:28 – 3:50 = Refrain / Keyboardmelodie Tony
3:50 – 3:56 = Strophenintro reggaeartiger Rhythmus
3:56 – 4:58 = Mittelteil tiefer Keyboardbaßton/Riff Mike Strings Tony + verfremdeter Gesang Ray
4:58 – 7:50 = Schlußpassage (D-Dur) schwebende Vocoder-Chöre/Stringsharmonien / Tony + Schlagzeug Nir / „Feel”- Gitarrenriff Mike / Improvisierte Gesangsfetzen

Alien Afternoon ist der erste von vier längeren Songs auf Calling All Stations. Nach dem atmosphärischen Intro folgt erstmals der trocken-verschrobene Strophenteil im Reggaeverschnitt (so was macht Banks ja gelegentlich ganz gerne, siehe Me And Sarah Jane oder This Is Love), der atmosphärisch etwas an Hero For An Hour erinnert. Die Textpassage „Woke up in the morning” erinnert an Stings Message In A Bottle. Die gelungene Gesangspassage „Gotta get to work on time” bleibt bereits beim ersten Anhören als Wiederkennungsmerkmal hängen. Tony Banks wartet in Strophe/Bridge/Refrain mit einigen im positiven Sinne eigenwilligen Harmonieübergängen auf.

Der Höhepunkt dieses Stücks ist der Übergang Mittelteil/Schlusspassage, der ein Gefühl auslöst, als würde man in einen wunderbar klaren Bergsee eintauchen (siehe auch Stück Nr. 8 Uncertain Weather). Leider kann der Schlußteil nicht ganz das Niveau seines Einstiegs halten. Tony taucht in sein Keyboardmeer ein, Mike spielt sein Riff mit viel Hingabe, aber Ray Wilson improvisiert lediglich im Hintergrund des Mix herum, und es müßte (z. B. harmonisch oder durch ein beherztes Instrumentalsolo) ein Tick mehr passieren in dieser „Closing Section”. Lediglich Nir Zidkyahu vermag hier mit seinem abwechslungsreichen Schlagzeugspiel zu überzeugen.

Genesis-Studio-Novum: Zwei verschiedene Drummer in einem Stück! Im ersten Teil trommelt Nick D’Virgilio, im zweiten Nir Zidkyahu.

Alien Afternoon erzählt auf bizarr-poetische Weise den seltsamen Nachmittag eines Menschen. Dieser merkwürdige Text läßt mannigfaltige Deutungsmöglichkeiten offen:

1. Versuch: Ein Mensch macht sonderbare Erfahrungen und kann erst danach die Welt, die ihm so selbstverständlich schien, genießen und schätzen. Die merkwürdigen Veränderungen der Umwelt könnten dabei metaphorisch für einschneidende Lebenserfahrungen stehen.

2. Versuch: Der Text könnte von einem bislang ganz normalen Menschen handeln, der sich mit dem Kampf gegen das Verrücktwerden konfrontiert sieht und der nach einigen solcher Kämpfen endlich seinen inneren Frieden fernab des Wahnsinns finden, seine vertraute, bekannte Welt nie mehr verlassen will. Seine seelische Krankheit schubst ihn immer wieder in neue unbekannte Erlebniswelten, und wenn es ihm nicht rechtzeitig gelingt, dem Strudel des Wahnsinns zu entkommen, muß er sich in den neuen Lebenskosmen erst immer wieder mühselig zurechtfinden, und kaum, daß ihm dies gelungen ist, widerfährt ihm aufs neue Sonderbares, kommt es wieder zu seltsamen Nachmittagen.

Textauszüge:

Der Himmel nahm ein dunkleres Blau an
Keine einzige Wolke, als die Sonne schien
Aber überall um mich herum fiel Regen zu Boden
Der Wind blies, aber in den Bäumen war kein Rauschen zu hören
Nur ein weiterer seltsamer Nachmittag […]
Höchste Zeit zu verschwinden, solange sich noch die Gelegenheit bietet
Bevor ich noch anfange zu glauben, was ich sehe und höre
Nichts hält mich hier, aber auch gar nichts
Ich muß hier rauskommen und meine Siebensachen packen,
Bevor ich verrückt werde
Ich muß rechtzeitig wegkommen […]
Nie mehr umherirren
Nie mehr meine Welt zurücklassen
Es gab niemals einen Grund,
Meine Liebe und mein Zuhause zurückzulassen,
Wo ich geboren wurde, dort sollte ich jetzt sein.
Ich würde niemals einsam sein
Ich würde niemals wieder traurig sein.

3. Versuch (Variante zum 2.): Das Verlassen der vertrauten Welt könnte statt vom Wahnsinn getrieben auch aus selbst gewähltem und später bereutem Forscherdrang heraus geschehen sein.

Textauszug:

Ich wollte irgendwo hingehen
Ich wollte sehen, wie seltsam alles sein kann
Keine zehn Pferde würden mich jemals mehr wegbringen.
Nie mehr umherirren
Nie mehr meine Welt zurücklassen.


Not About Us

Arbeitstitel: Accoustic EMI
Musik: Banks/Rutherford
Text: Wilson/Rutherford
Tonart: G-Moll/B-Moll
Tempo: 79 beats per minute

0:00 – 0:18 = Akustikgitarrenintro Mike (Strophenharmonien)
0:18 – 1:06 = 1. Strophe
1:06 – 1:52 = Refrain
1:52 – 2:40 = 2. Strophe
2:40 – 3:25 = Refrain
3:25 – 3:37 = Tonartenwechsel nach B-Moll, Keyboardsolo Tony ( horn sound)
3:37 – 4:38 = Schlußpassage über Strophenharmonien (wieder G-Moll)

Nach Us, Only Us, One Of Us (Abba), Not One Of Us und All About Us nun endlich Not About Us, ein Stück Marke „Heavy-Metal Band goes Leuchtkerzen-Ballade”, wie z. B. More Than Words von Extreme. Den Text zu Not About Us schrieb Mike Rutherford gemeinsam mit Ray Wilson, dessen Gesang in diesem Stück an Bryan Adams erinnert. Bei diesem Lagerfeuersong übernimmt zum ersten Mal seit Duke-Zeiten (Alone Tonight, Open Door) die Western-Gitarre, die Mike kürzlich bei den Aufnahmen zum Mechanics-Album Beggar On A Beach Of Gold vom Speicher geholt hatte, bei Genesis wieder eine tragende Rolle. Lediglich für kurze Sequenzen bei Just A Job To Do hatte dieses Instrument seit 1980 Verwendung gefunden.

Not About Us, eine Art langsames Over My Shoulder, hinterläßt zwar den Eindruck „Einfacher Song”, bietet aber vor allem im Refrain interessante Harmoniefolgen. Das Ende des Refrains weckt harmonisch die Assoziation zu Vancouver, was einer Analyse jedoch nicht ganz standhalten kann. Bei Vancouverwechselt Mike von Fis-Dur auf G-Dur, bei Not About Us von D-Moll auf Gis-Dur – dennoch wird eine ähnliche Wirkung erzielt, was wohl in beiden Fällen an den im Harmoniekontext ungewöhnlichen Akkordwechseln und ihrer Positionierung im Song (jeweils am Ende eines Abschnitts) liegt.

Not About Us ist ein Liebeslied mit dem Kernthema Einsamkeit.

Textauszüge:

Es geht nicht länger um uns
Es geht um all die Gründe,
Für die wir glauben zu kämpfen
Es geht nicht um Haß
Es geht nicht um den Schmerz, den wir immer fühlen
Ich weiß, wir haben unsere Probleme
Aber da sind wir nicht die einzigen
Es geht nicht um dich, nicht um mich
Es geht nicht um Wut
Es geht mehr um die Einsamkeit, die wir fühlen.


If That’s What You Need

Arbeitstitel: Jelly
Musik: Banks/Rutherford
Text: Rutherford
Tonarten: E-Dur/C-Dur
Tempo: 89 beats per minute

0:00 – 0:32 = Intro Strings Tony /„Ticketickeding” Mike
0:32 – 1:09 = 1. Strophe
1:09 – 1:41 = Refrain
1:41 – 2:18 = 2. Strophe
2:18 – 2:50 = Refrain (Steigerung Gitarre Mike)
2:50 – 3.14 = Gesangs-Mittelteil (Tonartenwechsel auf C-Dur)
3:14 – 3:35 = Keyboardsolo Tony (Strings-Sound)
3:35 – 4:13 = 3. Strophe (harmonisch leicht modifiziert)
4:13 – 5:12 = Schlußrefrain

Aus der Reihe „Alles schon mal dagewesen” folgt das gefühlvolle, romantische If That’s What You Need, eine Art Mischung aus Hold On My Heart und den Strophenteilen von Nobody Knows (Mechanics). Mike spielt sein „Ticketickeding”, und Tony trägt Harmonien bei, die besonders im Strophenteil (trotz des ärmlichen „Schlagzeugs”) ob ihrer bizarren Schönheit zu gefallen wissen. Der Gesangsmittelteil hat nicht die Originalität der anderen Passagen, und Tonys harmloses Keyboardsolo klingt irgendwie nach Altersheim. Dieser Song gewinnt durch die wirkungsvoll eingesetzten Dynamikwechsel, so z. B. durch die Lautstärkevariationen oder durch den Einsatz einer zweiten Gitarre im Arrangement, die mehr Klangfülle und dadurch Steigerungen bewirkt.

In If That’s What You Need geht es um einen Mann, der nach einer gewissen Zeit der Unentschlossenheit kurz davor steht, endlich den Mut zu entwickeln, einer Frau seine Gefühle zu gestehen und ihr dabei in der poetischen Sprache eines Liebenden alles Mögliche und Unmögliche zu versprechen. Wer zu lange wartet, den bestraft vielleicht das Leben, oder, wie es Wolfgang Ambros einst in Kaputt und munter formulierte: „Überlange Wartezeit ist der Tod jeder Idee”.

Textauszüge:

Als du in mein Leben knalltest und alles auf den Kopf stelltest,
Gelobte ich für mich, ich würde dir nichts sagen,
Bis wir eine stabile Basis gefunden hätten […]
Die Fähigkeit zu reden macht uns menschlich – so habe ich es gelernt
Also warum finde ich es so schwierig, meine Gefühle zu enthüllen?
Hätte ich den Mut sie dir mitzuteilen, würde ich dir folgendes versprechen:
Wenn es das ist, was du brauchst,
Werde ich der Fluß sein und der Berg, immer an deiner Seite
Wenn es das ist, was du brauchst,
Werde ich stärker und tapferer sein als jemals zuvor
Bei der geringsten Gefahr
Rufe meinen Namen
Folge meinen Fußspuren
Ich werde dich sicher zurückführen.


The Dividing Line

Arbeitstitel: NYPD
Musik: Banks/Rutherford
Text: Rutherford
Tonarten: A-Moll, E-Dur
Tempo: 119 beats per minute

0:00 – 1:49 = Intro Kurzes „Anlasser-Knacken” (?) Synthesizer-Bass, Drums & Percussion Nir, Heavy-Gitarrenattacken Mike ab 0:49 Keyboardmelodie Tony (Abacab-artiger Sound) (Tonart: A-Moll), ab 1:37 Überleitende Gitarreneinsätze (bereits in E-Dur)
1:49 – 3:17 = Gesangspassage A
3:17 – 3:57 = Gesangspassage B
3:57 – 5:01 = Gitarrenriff Mike, Gesangspassage A
5:01 – 5:41 = Gesangspassage B
5:41 – 7:32 = (Wiederholung Intro)
5:41 – 6.29 Synthesizer-Baß + Schlagzeug-Solo
6:29 – 7:32 Keyboardmelodie Tony (Abacab-artiger Sound) (Tonart: A-Moll)
7:32 – 7:44 = Schluß – inklusive kurzem, wohl unbeabsichtigtem (?) Baß-Brumm

Das kraftvolle The Dividing Line erinnert ob seiner Energie an die heftigen Genesis-Stücke aus der Peter Gabriel-Phase (The Knife, The Return Of The Giant Hogweed). Der zweite Long-Song auf Calling All Stations legt los mit einem an Land Of Confusion erinnernden Synthie-Baß, wütenden Schlagzeug-Toms Marke Phil Collins und rotzigen Heavy-Gitarren-Einsätzen. Es folgt ein längerer Keyboardteil mit einfachen, aber wirkungsvollen Melodien im Abacab-artigen Sound. Just in dem Moment, als man meint: „Holla, das ist ja ein Instrumental!”, setzt Ray Wilsons packender Gesang ein. Besonders einprägsam ist die Stelle „Hey, hey, hey, hey!”, die jeweils am Ende der Gesangspassage A auftaucht. In Gesangs-Passage B fallen unter anderem Banks’ interessante Harmoniefolgen auf, die er über den gleichbleibenden Baßton E fließen läßt. Ein Genesis-Studio-Novum ist das energische in der Intro-Wiederholung am Schluß eingebettete Schlagzeugsolo von Nir Zidkyahu. Wenn Collins das hört, wird er sich ärgern, daß er nicht mehr dabei ist! Schade auch, daß die Zeiten mit zwei Live-Schlagzeugern vorbei sind, das wäre ein Drum Duet geworden …

Erwähnenswert ist, daß The Dividing Line als einziges Stück auf diesem Album statt eines Fade-Outs einen richtigen, griffigen Schluß hat (zur Nachahmung empfohlen), was möglicherweise erklärt, wieso dieser Song ursprünglich den Schluß dieser CD bilden sollte.

The Dividing Line ist eine Auseinandersetzung mit der sozialen Ungleichheit in unseren Städten und eine Kritik an der Haltung „Kopf in den Sand, interessiert mich alles nicht, und nach mir die Sintflut”. Eine solch inhumane und ignorante Einstellung könnte sich möglicherweise noch zu Lebzeiten rächen. Statt ausschließlich im Saft der eigenen Behaglichkeit zu schmoren, sollte man einen Teil seiner Kräfte dafür einsetzen, die Trennungslinie zwischen Armut und Wohlstand nicht nur als traurigen Bestandteil unserer Gesellschaften zu erkennen, sondern auch mit dazu beizutragen, daß das Gefälle nicht zu groß wird. The Dividing Line steht vom textlichen Inhalt her in der Tradition von Songs wie Another Day In Paradise, Both Sides Of The Story oder auch Get ‚Em Out By Friday.

Textauszüge:

Hier war immer eine Trennungslinie
Aber du hast dich entschlossen sie nicht zu sehen […]
Sie durchschneidet das Herz jeder Stadt
Wenn du die Spitze des höchsten Bauwerks erklimmst,
Kannst du sehen wo sie verläuft, denn die Straßenbeleuchtung endet,
Und die Farben beginnen sich zu verändern
Eine Stimme spricht in dir
Es sind nicht die Worte, die du hören wolltest
Es sind nicht die Dinge, die du sehen wolltest
Vergiß in der Behaglichkeit und Sicherheit deines eigenen Zuhauses
Nicht jene da draußen in Kälte, Wind und Regen
Nimm einen kleinen Lichtstrahl in deine Hände
Und verwandle ihn in einen Strahl,
Der die Dunkelheit der Nacht durchdringt.


Uncertain Weather

Arbeitstitel: Answering 12
Musik: Banks/Rutherford
Text: Banks
Tonarten: D-Moll/F-Dur
Tempo: 88 beats per minute

0:00 – 0.54 = Intro Effektpercussion Gesang Ray (2. Strophenteil) Strings-Melodie Tony
0:54 – 1:37 = 1. Strophe
1:37 – 2:26 = Refrain (F-Dur)
2:26 – 2:48 = Gesangsmittelteil
2:48 – 3:10 = Strings-Melodie Tony
3:10 – 3:53 = 2. Strophe
3:53 – 5.29 = Schlußrefrain (minimal erweitert)

Vorstellungen neuer Alben sollen möglichst objektiv gehalten sein und subjektiver Stellungnahmen entbehren. An dieser Stelle sei es erlaubt, einmal kurz den Weg möglichst neutraler Beschreibungen zu verlassen: Uncertain Weatherist neben dem Titelsong und The Dividing Line einer der Höhepunkte auf dem neuen Genesis-Album. In diesem kurzen, perfekten Song passiert so einiges! Uncertain Weather überrascht mit einem ungewöhnlichen Intro. Es beginnt mit einer kurzen effektverfremdeten Drummachine-Passage, gefolgt vom zweiten Strophenteil und einer Stringsmelodie von Tony Banks. Das Schlagzeug während des Intros und der Strophen erinnert an Can’t Find My Way(Phil Collins). Quizfrage: Was macht wohl Mike Rutherford während der Strophen? Richtig, er spielt sein „Ticketickeding”! Aber, wie so oft, es paßt dort auch gut hin. Was schon für den Übergang Mittelteil/Schlußpassage von Alien Afternoon galt (Eintauchen in einen kristallklaren Bergsee), gilt in noch gesteigertem Maße für den Übergang Strophe/Refrain in Uncertain Weather. Durch den Noel McCalla-artigen Gesang erinnert der Refrain an gute alte Smallcreep’s Day-Zeiten. Auch der gleichermaßen verhaltene wie gelungene Gesangsmittelteil hat Beachtung verdient!

Ein wunderschöner melancholischer Text rundet den Song vollends ab. Er handelt von der Betrachtung eines verblichenen Photos und den Gedanken, die sich der Betrachter über die abgebildete Person, einen verschollenen Kriegsgefangenen macht.

Textauszüge:

Ein Tag mit unbeständigem Wetter
In einem Rahmen für immer festgehalten
Ein Gesicht auf einer verblichenen Photographie. […]
Ein Sünder, ein Heiliger, ein Soldat.
Ein Kriegsgefangener
Er hatte nie eine Chance
Ein Leben zu beginnen oder zu gestalten.
Alles vorbei, lange vorbei
Keine Spur hinterlassen,
Verschwunden wie Rauch im Wind.


Small Talk

Arbeitstitel: Morley
Musik: Banks/Rutherford (/Wilson?)
Text: Wilson
Tonarten: A-Moll/C-Dur
Tempo: 86 beats per minute

0:00 – 0:28 = Intro Refrainende (1x), Zweiter Strophenteil
0:28 – 0:50 = 1. Strophe
0:50 – 1:15 = 2. Strophe
1:15 – 1:53 = Refrain
1:53 – 2:15 = Zwischenspiel A Tony/Mike (über zweiten Strophenteil)
2:15 – 2:40 = 3. Strophe (wie 2. Strophe)
2:40 – 3:19 = Refrain
3:19 – 3:41 = Zwischenspiel B (Tonartenwechsel auf C-Dur; Kneipensmalltalk + Pizzicatosound Tony)
3:41 – 3:47 = Zwischenspiel C (=Refrainende, wieder A-Moll)
3:47 – 5:01 = Schlußpassage

Small Talk ist ein Song Marke „Leichtverdauliche Banks-Songs” wie z. B. Charity Balls oder Strictly Incognito. Auch in diesem Song packt Tony für Strophe und Intro wieder den griffigen Abacab-Sound aus. Originell und auffällig sind drei Keyboardkurzeinsätze in der dritten Strophe, die klingen, als wenn jemand versehentlich auf die Tastatur gekommen wäre. Der Mittelteil wird unterlegt mit einer Kneipen-Atmosphäre – einen ähnlichen Effekt verwendeten Genesis bei Illegal Alien. Der verhaltene Schlußteil mit seinen angedeuteten Gesangsfetzen erinnert ein bißchen an Aisle Of Plenty. Bei der Stelle „I’ll be alright” ganz am Ende des Songs singt Ray Wilson im Stile von Peter Gabriel („Dance right out through the night …”). Sicher kein Wahnsinnssong, aber er hat auf Calling All Stations seinen Platz als stilistischer Farbtupfer. Darüberhinaus hat dieser Song durchaus Hitchancen und böte sich als vierte Singleauskopplung an.

In Small Talk geht es um Kommunikationsprobleme, die das drohende Ende einer Liebesfreundschaft zur Folge haben.

Textauszüge:

Ich mache die Runde, höre zu viele Standpunkte
Nur Wortwechsel, die mich erschöpfen
Ich könnte gut ohne dieses oberflächliche Gerede leben
Es würde mich verblüffen, wenn du die Dinge
Mal wieder auf meine Weise betrachten würdest
Jetzt nachdem du meinen Stolz mißachtet hast […]
Du sagst, ich rede zu wenig, das trifft doch auf uns beide zu
Versuche nicht, mir auf den Zahn zu fühlen, ich kann gut ohne dies leben
Soviel geht ab in deinem Kopf, ich frage mich oft
Hast du genug erfahren, um sicher zu sein, daß alles gesagt ist?
Sprich mit mir, sag irgendwas
Ich wünsche, du meinst ernst, was du sagst
Ich habe alles gesehen, was ich sehen wollte, du bedeutest mir alles
Ich lebte jeden Augenblick, um mit dir zusammen zu sein.


There Must Be Some Other Way

Arbeitstitel: Thunder
Musik: Banks/Rutherford
Text: Banks/Wilson
Tonarten: E-Moll/E-Dur
Tempo: 108 beats per minute

0:00 – 0:35 = Intro Drummachine/Mike Strings Tony (Strophenschnipsel ohne Gesang)
0:35 – 1:32 = 1. Strophe
1:32 – 2:16 = Refrain
2:16 – 3:13 = 2. Strophe
3:13 – 3:58 = Refrain Überleitung zum Mittelteil
3:58 – 6:05 = Mittelteil ab 3:58 = Keyboardsolo A (I’ll Be Waiting-ähnlicher Sound) über Toms/Snare-Drumpattern, ab 4:24 = Zusätzliche Keyboardmelodie (Fading Lights-Solosound), ab 4:42 = Keyboardsolo B (Fading Lights-Solosound), ab 5:06 Steigerung im Arrangement (Pizzicato-Keyboards), ab 5:21 weitere dynamische Steigerung (mehr Sounddichte, Schlagzeug) ab 5:39 = Keyboardsolo A,  ab 5:56 = Rückführung zur Strophe
6:05 – 7:02 = 3. Strophe
7:02 – 7:53 = Schlußrefrain

In den ersten vier Minuten lebt Long-Song Numero 3 There Must Be Some Other Way vom dynamischen Wechsel Strophe/Refrain. Während sich in den Strophen einige interessante softe Strings-Harmonien am Bordunton E reiben und Ray Wilson passend dazu eher verhalten singt, kehrt er mit stimmlicher Urgewalt im Refrain den „Shouter” heraus. Der dichte Banks-typische Keyboardsound im Refrain erinnert an die Schlußphase von Submarine. Mike zuzzelt während der Strophen mal wieder rhythmisch auf einem einzigen Ton herum. In der zweiten Strophe (bei 2:23) zieht er einen Gitarrenton im Stile der letzten beiden Töne von Second Home By The Sea. Im Mittelteil gibt Tony Banks über einer recht herkömmlichen Harmonik eher Unspektakuläres, aber doch Gefälliges zum besten. Vom ganzen Aufbau her (lange Gesangspassage – langer Keyboardsoloteil – Rückkehr zur einleitenden Gesangspassage) und teilweise auch aufgrund der verwendeten Sounds ist There Must Be Some Other Way, wenn man einmal von der Heftigkeit der Refrains absieht, eine Art Nachfolger von Fading Lights.

Auch in There Must Be Some Other Wayist eine Liebesfreundschaft an ihr trauriges Ende gekommen. Es stellt sich aber immerhin noch die Frage: Gibt es wirklich keinen anderen Weg als die Trennung?

Textauszüge:

Du bist die längste Zeit Teil meines Lebens gewesen
Ich muß mich wieder daran erinnern,
Zuviel ist uns widerfahren, was uns beiden Schmerz zufügte.
Es ist vorbei, wir beide haben zuviel verbockt
Es hätte die Chance bestanden zu reden und zu lernen
Es gibt nicht mehr viel zu sagen,
Wir haben das alles so oft durchgekaut.
Diesmal sind wir zu weit gegangen, es könnte nie mehr sein wie früher,
Es ist an der Zeit, mit der Gestaltung des neuen Lebens fortzufahren.
Einst versprachen wir, für immer zusammenzubleiben,
Es muß doch einen anderen Weg geben,
Um ans Ziel zu gelangen.
Bitte zeig ihn mir.


One Man’s Fool

Arbeitstitel: Breathless
Musik: Banks/Rutherford
Text: Banks
Tonarten: Es-Moll/Cis-Moll/Es-Dur/Fis-Dur
Tempo: 86 beats per minute

0:00 – 0:22 = Intro Drummachine Keyboardmelodie Tony/Gitarrenharmonien Mike
0:22 – 1:01 = 1. Strophe
1:01 – 1:31 = Refrain (Bläsersounds + Driving The Last Spike-Schlußrefrain-Live-Keyboard Tony)
1:31 – 2:09 = 2. Strophe
2:09 – 2:40 = Refrain
2:40 – 3:18 = 3. Strophe (Arrangement leicht erweitert)
3:18 – 3:48 = Refrain
3:48 – 8:46 = „Grande Finale” (fast durchgehend mit Gesang Ray) ab 3:48 – 4:07 = Keyboardsolo Tony (Cis-Moll)
ab 4:07 = Gitarrenriff Mike
ab 4:18 = Keyboard-„Anschleicher” Tony
ab 4:24 = Tonartenwechsel zurück auf Es-Dur Gesang Ray im Hintergrund
ab 4:51 = Keyboardharmonien im Driving The Last Spike-Schluß-refrain-Live-Sound, ab 5:00 = Rhythmischer Gitarrenriff Mike (Driving The Last Spike-closing section-artig),
ab 6:08 = Mehrere Gesangslinien übereinander, ab 6:14 = Neue harmonische Passage (orgelartiger Sound) + Gesang Ray
ab 7:03 = Schlagzeug Double-beat
ab 7:36 – 7:47 = Tonartenwechsel nach Fis-Dur
ab 7:47 = Schlußpassage Keyboardharmonien wieder in Es-Dur (wie ab 4:51)

Die Genesis-Musik der 70er Jahre wurde gemeinhin als „Art-Rock” bezeichnet. Folgerichtig ließe sich ein Stück wie One Man’s Foolzusammen mit einigen anderen Stücken auf Calling All Stations vielleicht in eine Schublade mit der Aufschrift „Art-Pop” stecken. Im Intro dieses vierten längeren Stücks jedenfalls spielt Mike Rutherford die für ihn wohl schwierigste, „art-rockigste” Passage auf dem gesamten Album. Schade nur, daß sie etwas kurz geraten ist. Nach der engagierten Anfangspassage, in der lediglich die laute Snare in der zweiten Strophe stört, spielt Tony Banks ein kurzes Keyboardsolo, das vor allem aus drei rhythmisch versetzten Tönen seinen Reiz bezieht und das „Grande Finale” einleitet, das klingt, als ob aus einer längeren Improvisation einige Passagen herausgepickt und essentiell aneinandergefügt worden wären. Eine solche Arbeitsweise verwendeten Genesis verbürgtermaßen bei Abacab, vermutlich auch bei einem Stück wie Do The Neurotic. Die Verwandtschaft zu diesem Non-Album-Track aus der Invisible Touch-Zeit wird vor allem offensichtlich, wenn Schlagzeuger Nir Zidkyahu bei Minute 7:03 zum doppelten Tempo übergeht. Auch diverse Assoziationen zu Driving The Last Spike liegen auf der Hand (siehe oben). Der Schluß zieht sich wie ein Kaugummi und ist trotz seines Abwechslungsreichtums eher ermüdend als mitreißend. Bei der Textzeile „There Are Only Differences” erinnert Ray Wilson an den It Bites-Sänger Francis Dunnery.

Der Text von One Man’s Fool ist erstens nicht einfach zu übersetzen und öffnet zweitens aufgrund seiner teilweise bissig-resignativen Zeilen allen möglichen Interpretationen Tür und Tor. Durch seinen Protestsong-Charakter stellt er eine Fortsetzung von Songs wie Land Of Confusion oder Tell Me Why dar.

Textauszüge:

Obgleich die Bauwerke zerbröckeln und zu Boden fallen
Und der staubige Rauch in die Luft steigt,
Kannst du dir sicher sein, daß irgendwo jemand
Stolzerfüllt und zufrieden daherschaut. […]
Nun, da die Abenddämmerung einen weiteren Tag beendet,
Wird für zu viele das Leben nie mehr dasselbe sein
Und all dies aus einem Grund, den sie niemals verstehen werden. […]
Und am Morgen danach vergegenwärtigt ihr euch die Lage,
Seht die kaputten Gesichter und zerstörten Leben,
Habt ihr in eurem Kopf nie einen Moment des Zweifels? […]
Und wenn der Krieg vorbei und gewonnen ist,
Herrscht dann immerfort Friede?
Statuen aus Stein gemeißelt, aus Holz geschnitzt, aus Gold gegossen,
Wenn du bei ihnen um Erbarmen bittest,
Wird das deine Seele auch nicht mehr retten.

Diese und einige andere Zeilen prangern den Wahnsinn und die Sinnlosigkeit von Kriegen an, in denen Millionen Friedfertiger leiden müssen für irgendwelche vereinzelte Machthaber, die Grenzlinien ziehen, um sie dann mit hohem menschenfeindlichem Aufwand zu verteidigen (Beispiele, die Anlaß für diesen Text gewesen sein könnten, gibt es auch in der jüngeren Menschheitsgeschichte leider genug). Zur Krönung des ganzen Irrsinns werden diesen Militaristen dann häufig auch noch Denkmäler errichtet.


… CLOSING SECTION …

Nach den gelungenen Genesis-„Filialalben” der jüngeren Vergangenheit, wie z. B. Strictly Inc., Beggar On A Beach Of Gold, Dance Into The Light oder A Midsummer Night’s Dream, liefert die „Zentrale” mit Calling All Stations ein Album ab, auf dessen Fan-Resonanz man gespannt sein darf (Tip: oft und ab und zu auch mal laut hören!). Da angeblich insgesamt 17 Songs geschrieben wurden, stehen uns hoffentlich noch vier Non-Album-Tracks ins Haus. Einer davon heißt vermutlich Run Out Of Time und war laut Internet-Informationen ursprünglich für das Album vorgesehen.

Obwohl We Can’t Dance mit „Klasse”-Songs wie Fading Lights, Driving The Last Spike oder No Son Of Mine aufwartete, zeigte sich während der folgenden Tournee, daß die Luft bei Genesis leider ziemlich raus war, zu austauschbar und unengagiert waren trotz der tollen Musik die Auftritte. Bei aller Liebe zu und Hochachtung vor Phil Collins, die Zeit war reif für eine Veränderung. Es bleibt abzuwarten, welche Auswirkungen der frische Wilson-Wind auf die Konzerte haben wird, bei denen ein weiteres neues Mitglied in die Genesis-Familie aufgenommen wird: Für Daryl Stuermer, der mit Phil Collins durch die Welt zieht und somit für Genesis verhindert ist, geht Gitarrist und Bassist Anthony „Anto” Drennan (früher Clannad, The Corrs, Bill Whelan u. a.) mit auf Tournee. Am Schlagzeug wird Nir Zidkyahu sitzen.

Autoren: Bernd Vormwald + Steffen Gerlach