- Artikel
- Lesezeit ca. 11 Minuten
Genesis – Anatomy Of A Setlist – Turn It On Again Tour 2007
Die Setlist zur Genesis Tour 2007 wurde in Fankreisen kontrovers diskutiert. Jan Hecker Stampehl hat sie sich mal genauer angesehen…
Wie Genesis auf die bei allen europäischen Konzerten unverändert gespielte Setlist gekommen sind, haben sie in den Interviews zur Tournee bisher immer wieder in kurzen Hinweisen erläutert – es regiert der Kompromiss, mit den Hits das Pop-Publikum zufriedenzustellen, aber mit einigen alten Klassikern das Band- und Fanherz höher schlagen zu lassen. Ich habe Tony, Mike und Phil nicht befragt, aber mir mal ein paar Gedanken zur Dramaturgie des Konzertes gemacht – subjektive Einschätzungen und Überlegungen zur tatsächlichen Umsetzung mit eingeschlossen. Die Einteilung in Prog- und Popfans ist sicherlich eine Schwarzweißmalerei – da es jeder anders sieht, sind Kommentare/Einspruch natürlich erwünscht!
Behind The Lines / Duke’s Endund Turn It On Again
Ein triumphaler instrumentaler Auftakt mit den fanfarenartigen Anfangsakkorden und dem wuchtigen Doppel-Schlagzeug. Selbstbewusst signalisieren Genesis mit diesem kraftvollen Beginn: Wir sind zurück, wir betreten wieder die Bühne und das mit einem musikalischen Ausrufezeichen. Der vom ersten Takt an druckvolle Sound macht zumindest dem Innenraumpublikum deutlich, dass es klangtechnisch auf seine Kosten kommen wird. Zudem wird mit Phil hinter den Drums und der Wahl eines reinen Instrumentalstücks zu Beginn die Devise gleich auch musikalisch verdeutlicht: Viele alte Stücke, viele Instrumentalparts, viel Phil am Schlagzeug. Zugleich auch ein erstes Wagnis: Manch heutiger Hörer, der im älteren Werk nicht so zu Hause ist, kennt BTL/DE gar nicht. Die Kenner sind freudig überrascht: BTL war als möglicher Opener häufiger Gegenstand von Spekulationen, aber man hatte nicht unbedingt fest damit gerechnet, dass es auf die Setlist kommt.
Der Anfang wird zu einer ‚Mini-Duke-Suite‘ verlängert, zugleich aber auch das Motto der Tournee mit dem dazugehörigen Song deklamiert: Wir schmeißen die Genesis-Hitmaschine wieder an – Turn It On Again, ’spielt’s noch einmal, Genesis‘. Zudem gelingt endlich die Befreiung des Songs aus der babylonischen Gefangenschaft der ewigen Zugabe. Nachdem man auf den letzten Tourneen schon die Spielereien mit den 60er-Jahre-Hits wieder rausgeschmissen hat, setzt man den Song nun wie schon auf früheren Tourneen an den Anfang des Sets. Tempomacher, Stimmungsmacher und doch durch die Verbindung mit dem Opener eine längere Verneigung gegenüber dem Album Duke.
No Son Of Mine und Land Of Confusion
Mit den beiden folgenden Stücken wird der Teil des Publikums, der wegen der großen Hits gekommen ist, weiter angefüttert. Mit No Son Of Mine können sich aber durchaus viele Prog-Fans anfreunden – vielen gilt der Song als Genesis‘ beste Single, und die emotionale Intensität, mit der Phil das Stück singt, gibt einem Gänsehaut. Land Of Confusionist als Live-Stück nun auch schon ein alter Bekannter – hier gehen viele der Mitt-Dreißiger bis Vierziger ab – Jugenderinnerungen an die Zeit, als man noch MTV guckte, werden durch die drei Spitting-Image-Konterfeis zu Beginn noch verstärkt-
Beide Stücke standen schon auf der 92er Tour früh am Anfang des Sets, und da machen sie sich auch gut – sie sind Mid-Tempo-Stücke, deren Text, zumindest des Refrains, fast jeder kennt und die zumindest das Pop-Publikum in der Gewissheit wiegen ‚ich weiß, warum ich heute abend hier bin‘.
In The Cage / The Cinema Show / Duke’s Travels / Afterglow
Diese Gewissheit dürfte für die nächsten 18 Minuten dann erstmal flöten gehen – wenn man zumindest von den nun folgenden Tracks noch nie etwas gehört hat. Früh im Set wird Tonys Ankündigung wahr, dass man viele Longtracks spielen wolle, um damit eine bestimmte Seite von Genesis zu zeigen, die von den Radiohits überschattet wurde. Für jemand, der das nicht kennt, durchaus eine härtere Prüfung. Wechselnde Rhythmen, ausgedehnte Soli und Instrumentalpassagen der ganzen Band, ein sperriger Text, den man selbst wenn man die Worte versteht, nicht nachvollziehen kann, wenn man nicht weiß, welchen Hintergrund das Stück hat. Mit Duke’s Travels wird ein neues Element in die altbekannte ITC-Medley eingebaut und damit ist auch für die Fans, die die klassische ITC-CinemaShow-Slippermen-Medley von früher schon kennen, ein schönes Überraschungsmoment mit eingebaut. Tony hat wohl durch die SACD-/5.1.-Mixe seine Vorliebe für Duke verstärkt wiederentdeckt, was mit ein Grund dafür sein könnte, dass man an verschiedenen Stellen die Instrumentals aus diesem Album einbaut.
Die Darbietung der ITC-Medley ist über die Jahre zu einem ewigen Selbstzitat geworden: Wie schon Peter anno 1974/75 singt Phil – wie er selbst schon seit vielen Tourneen – den Part ‚Outside the cage, I see my brother John‘ von einer erhöhten Stelle aus unter massivem Einsatz der Nebelmaschine. Insgesamt ist diese Version von Tempo, vom Gestus und von Phils Gesang her näher an der ursprünglichen Lamb-Version und nicht so nah an den Versionen der frühen 80er. Etwa auf der Three Sides Live ging es schon bei den ersten Takten wesentlich härter und schneller zu – diesmal wird die Intensität langsamer, effektvoller gesteigert, bis sie im schnellen ‚out of this pain‘-Teil kulminiert.
Auch Afterglow ist ein Selbstzitat – die erneut massiven Nebelschwaden und der Einsatz der Scheinwerfer hinter und schräg unter der Bühne gewährleisten einen sphärischen Effekt, den wir entweder von früher her oder zumindest von Armando Gallos Fotos her kennen. Die Selbstzitate sind keineswegs negativ zu verstehen: Sie sorgen dafür, dass die ‚alten‘ Genesis-Fans wissen, warum sie heute abend hier sind. Gänsehautfeeling en masse.
Hold On My Heart
Auch wenn viele Fans der 70er-Jahre-Genesis an diesem Punkt den Mund verziehen: Hier wird nicht nur das Hitpublikum wieder eingeholt, sondern nach der tour de force zuvor kehrt jetzt erst einmal Ruhe ein, und gerade das freier gesungene Ende kann auch den ein oder anderen Verächter dieses Stücks sanftmütig stimmen. Zeit zum Atemholen vor dem nächsten Longtrack,
Home By The Sea / Second Home By The Sea
, der beides schafft: die Fans der komplexeren Stücke und die Fans der Pop-Genesis gleichermaßen zu bedienen. Tony Banks‘ eingängigstes Synthie-Riff ist ein 80er-Jahre-Klassiker, der einfach jedem noch im Ohr ist. Mit Second Home By The Sea wird aber gleich klargemacht: Diese lange Form ist die definitive Fassung des Songs. Viel Wumms, viel Bass, zum zweiten Mal nach Cage wird eine massive ‚Wall of Sound‘ aufgebaut. Gerade in der zweiten Hälfte gar nicht so leichte Kost, der Track.
Follow You Follow Me
Die erste echte Überraschung – ein viele Tourneen lang nicht mehr so gespielter Song (’92 gab es einen Schnipsel im Old Medley, ’98 eine kurze Akustik-Version). Auch hier wird das Statement ‚Phil als Singing Drummer‘ unterstrichen, als er mit Headset Drums spielt und singt. Auch eine Verneigung gegenüber dem eigenen Anfang als Hitband, der aber für viele durchaus versöhnlich ausfällt – allzumal Tonys kurzes Synthiesolo selbst diesem simpleren aber bezaubernden Song eine kleine Prog-Note verleiht. Die auf den Hintergrund projizierten Strichmännchen greifen wie schon das Design der Platinum Collection und des Tour-Plakats die Figuren aus verschiedenen Albumcovern auf. Erinnerungen an The Musical Box, vor allem aber an die Alben We Can’t Dance, Dukeund A Trick Of The Tail, die am stärksten aufgegriffen werden, kommen auf. Hiermit wird das Motto aufgegriffen, das eigentlich die ’98er Tournee hatte, aber das auch für die TIOA-Tour sehr gut passt: Genesis Through The Ages
Firth Of Fifth / I Know What I Like
More drums! Phil bleibt gleich hinten und es kommt zur Präsentation eines der instrumentalen Paradestücke aus dem Genesis-Katalog. Tony und Daryl solieren, dass es eine Freude ist und die Mellotronklänge und das Bass-Pedal bauen wieder die Wall Of Sound auf, dass das Stadion zu beben beginnt. Bei welchem anderen Stadion-Konzert habe ich ein Moog-Basspedal so sehr körperlich gespürt! IKWIL kommt dann zwar im gleichen Übergang wie in der 92er Old Medley, aber dafür wird es – Erleichterung! – auch ausgespielt. Neben der nostalgischen Dia-Show ist der Song durch das obligatorische Aufgreifen der lawnmower-Anfangs- und Endsprüche auch eine diskrete Verneigung vor Peters Showman-Qualitäten in seiner Genesis-Zeit. Der Tambourin-Tanz ist natürlich auch ein weiteres endloses Selbstzitat, aber deswegen macht er nicht weniger Spaß. Phils Spiel mit der Menge – nach wie vor auch ein (selbst-) ironischer Seitenhieb auf Rockstarposen.
Mama
Der gespenstisch-unheimliche Song entfaltet sich durch Licht- und Video-Show (bei den meisten Auftritten wurde es ja jetzt erst so langsam dunkel) und Phil, der zu stimmlicher Höchstleistung aufläuft zu einem der dramatischen Höhepunkte des Abends – Pathos, die Hilfeschreie, eine bisweilen manisch-bedrohliche Stimmung. Wieder sind beide bedient: Die Pop- und die Progfreunde freuen sich beide gleichermaßen diebisch über das fiese Lachen und die Massivität des Drumsounds. Ein Song, der sich weder als Pop noch Rock einordnen lässt. Die Lichter und Video-Einspielungen greifen die Stimmung und das Thema des seinerzeitigen Videos auf (die rote Farbgebung, wir erinnern uns-), ohne es nur zu kopieren, sondern bringen es gewissermaßen optisch auf den Stand von 2007.
Ripples
Die zweite echte Überraschung im Set und eine mutige Wahl zu diesem Zeitpunkt des Sets – nicht gerade das, was man Stadionrock nennen würde. Eine zarte, pastorale Stimmung macht sich breit, und man geht ganz in den alten Zeiten auf. Das tun Genesis auch, als sie den ganzen Instrumentalpart durch- und mit zunehmender Tourlänge auch ein ausgedehnteres Ende spielen. Eine wiederentdeckte Perle und zugleich wahrscheinlich der dem ‚Hitpublikum‘ unbekannteste Song von allen. Durch seine zauberhaften Balladenqualitäten nimmt er aber jeden mit, der sich dem Song öffnen mag. Das Ende könnte ewig so weitergehen. Wenn Phil auch manchmal ambivalente Haltungen zu den früheren Genesis-Phasen geäußert haben mag – so, wie er auch in diesem Song aufgeht, muss er sie abgelegt haben. Eine große Sehnsucht macht sich breit, als Phil am Ende ’sail away, away – they never come back‘ immer weiter singt-
Throwing It All Away
Das Hitpublikum soll wieder bedient werden – der Bruch in der Stimmung ist aber doch etwas stark. Es hätte womöglich eine bessere Stelle für diesen Song gegeben. Gegen Ende des Hauptsets wollen Genesis aber nochmal eine ordentliche Packung aus dem Invisible-Touch-Album verabreichen, das zahlenmäßig übrigens weitaus stärker vertreten ist als etwa We Can’t Dance–
Domino
Die mit TIAA schon aufgegriffene Publikums-Miteinbeziehung wird mit dem domino principle auf die Spitze getrieben und damit auch die ausgelassene Heiterkeit. Nach dem Single-Hit nun aber auch gleich wieder ein anspruchsvoller Longtrack mit vielen verschiedenen Stimmungen – emotional eine Achterbahnfahrt. Die düstere Atmosphäre des Textes kommt durch die Light-Show und Phils Agieren gut zur Geltung – aber die Köpfe recken sich, als er während des Teils ‚blood on the windows‘- nicht auf der Bühne zu sehen ist . Eine weitere Demonstration, wieviel Genesis an den komplexeren längeren Stücken liegt und wie gekonnt und abwechslungsreich sie die live darbieten können. Wie schon bei HBTS ist auch Domino nicht unbedingt jedem noch ein Begriff – Genesis sind eben doch im Laufe der Zeit von einer Album- zur Single-Band geworden. Insofern gilt hier wie an so manchen Stellen nicht unbedingt Tony Banks- Statement, diese Tour sei wie -preaching to a converted audience- – für so manchen ist ein Track wie Domino eine weitere Lehrstunde in Sachen -auch das ist Genesis-.
Drum Duet / Los Endos
Das Drum-Duet – ein Genesis-Klassiker, der aber auf der ’92er Tournee durch seine fehlende Andockung an einen Song sehr verloren und künstlich wirkte. Hier nun der originelle Einstieg mit dem Duett auf den Hockern, der alle begeistert – darauf muss man erstmal kommen. Der langsame Aufbau ist nicht nur eine Erschließung des gesamten Schlagzeugs, sondern auch eine äußerst gekonnte sich langsam steigernde Hinführung auf die Explosion, mit der sich der Beginn von Los Endos entlädt. Eine kraftvolle Präsentation des musikalischen Könnens jedes einzelnen und zugleich aber vor allem eine wahre Bandgemeinschaftsleistung. Mit diesem Stück ist klar: Neben Duke ist A Trick Of The Tail das zweite bestimmende Album zur Erneuerung der Genesis-Setlist für diese Tour geworden – das dürfte nicht wenig mit der Arbeit an den Remasters und dem Box-Set zu tun haben-mit Los Endos schafft man zudem den Coup, für die Fans Assoziationen an die ganzen Songs, die in dem Stück ja zitiert werden, hervorzurufen: Squonk und Dance On A Volcano natürlich vor allen anderen. Ein wieder zum Leben erweckter Live-Klassiker, der in neuem Glanz erstrahlt, so hell wie das weiße Licht zum Ende des Stücks.
Tonight Tonight Tonight / Invisible Touch
Merkwürdig, jetzt noch einen Song zu bringen – was früher ging (mit Los Endos die Bühne verlassen), will man dann heute wohl doch lieber nicht. Also greift man wieder in die IT-Kiste und bringt den Doppelpack wie schon 1992 – schade zwar, dass man TTT nicht ausspielt, aber dafür wird die Zeit wohl langsam knapp. Mit Invisible Touch und seiner Happy-Hüpf-Stimmung schafft man es spielend, das Publikum zum Toben zu bringen und mehr zu wollen, ehe man mit dem Feuerwerk die Bühne verlässt. Für manchen ist das unnötiges Brimborium, aber es setzt einfach der insgesamt schon fulminanten Bühnenshow die Krone auf. Blick auf die Uhr: Wow, das waren ja schon an die 2 ½ Stunden!!!
I Can-t Dance
Der Zugabenblock fällt kurz aus – aber vielleicht ist das besser so – die Stimmung über noch mehr Songs jetzt noch zu halten, wäre einigermaßen schwierig.
Der ungewöhnlichste Genesis-Hit muss dann wohl sein – eine weitere Chance für Phil, die Selbstironie darzustellen und die Liebhaber dieser Genesis-Phase zu bedienen. Der Song, der wohl von den meisten mitgesungen wird. Zwiespältige Gefühle: Was 1992 noch komisch und zum Mitlachen war, wirkt 2007 merkwürdig abgestanden – eben doch ein -period piece—
The Carpet Crawlers
-was man über den zeitlosen Abschluss-Song wahrlich nicht behaupten kann. Die Zugabe ist also zweigeteilt – 50 % Pop-Ära, 50 % Prog/Gabriel-Ära, so hat auch hier jeder seinen Identifikationspunkt. Die Ansage fällt ungewohnt emotional aus, ein Song -that is true to Genesis, which is very special to us-. Mit einem kleinen Schlenker, nur einem Break von Chester auf den Toms schafft man es sogar, die 1999er Version kurz zu zitieren. Ein wunderbar ruhiger, und stimmungsvoller Ausklang, der durch seine zeitlosen Balladenqualitäten alle besänftigt und zufrieden gestellt nach Hause entlässt.
Die Spannung wird also an verschiedenen Stellen gesteigert und wieder zurückgenommen, der Takt, in dem man dann die Intensität steigert, wird dann immer dichter. So liegt zwischen der ITC-Medley und HBTS nur das kurze HOMH, nach FYFM wird gleich mit FoF wieder ein komplexerer Part geboten, zum Ende hin werden die dramatischen oder emotionalen Höhepunkte immer dichter gesetzt: Mama, Ripples, Domino, Los Endos, IT inkl. Feuerwerk. Das Ende ist dann wieder ruhiger – weder I Can-t Dance noch CC sind Stücke, bei denen man -so richtig abgeht-, auch wenn man sie sehr mag, sind sie keine Hüpf- und Mitklatschstücke.
Unter dem Strich ist diese auf der Europa-Tournee nie veränderte Setlist hinsichtlich der Dramatik und der Steigerung ein durchkomponiertes Lehrstück in punkto Daramaturgie eines Rock-Konzerts. Ein Punkt, der es erlaubt, die Setlist so ausgewogen zu gestalten, ist natürlich das Fehlen eines neuen Albums, das man vermarkten müsste. Insgesamt fällt auf, dass ein besonders großes Gewicht auf den melancholischen und dramatischen Stücken liegen, die, wie Mike es ja schon häufiger gesagt hat, Genesis immer ausgemacht haben. Sollte dies die letzte Genesis-Tournee geblieben sein, hätte sich die Band mit einer sorgfältig ausgewählten Werkschau von ihren Fans verabschiedet.
Aber, wie alle drei ja immer sagen -never say never– und -we-ll see-.
von Jan Hecker-Stampehl (Earl)