1. Artikel
  2. Lesezeit ca. 8 Minuten

Genesis – A Trick Of The Tail – CD Rezension

Nach Peter Gabriels Ausstieg 1975 mussten Genesis sich neu orientieren und personell neu strukturieren. Obwohl das Album eher durch ein Band-Provisorium entstanden ist, genießt es allerhöchste Anerkennung bei Fand uns Kritikern.

Nach fünf phantastischen Alben, die ein neues Kapitel in der Geschichte der progressiven Rockmusik aufgeschlagen haben und unzähligen umjubelten Live-Auftritten war es nicht mehr zu verhindern: Peter Gabriel hat sich am 22. Mai 1975 in Besancon zum letzten Mal abgeschminkt. Spätestens seit der Melody Maker im August titelte „Gabriel Out Of Genesis?“ wusste auch die interessierte englische Öffentlichkeit bescheid und die gesamte Fachwelt stellte sich nur eine Frage: Genesis ohne Peter Gabriel – wie soll das funktionieren?

Peter Gabriel hatte durch seinen charakteristischen Gesang und seine exzentrischen Bühnenauftritte über Jahre die öffentliche Wahrnehmung der Gruppe bestimmt. Auch wenn er immer wieder beteuerte, Genesis seien stets ein Kollektiv gewesen, war es für die Medien ausgemacht: Peter Gabriel IST Genesis. Dieses Missverständnis und die daraus folgende Einteilung in den „Star“ und seine „Begleitband“ war sicher ein gewichtiger Grund, der zur endgültigen Trennung führte.

Für die vier verbliebenen Bandmitglieder Tony Banks, Phil Collins, Steve Hackett und Mike Rutherford hingegen war es zu keiner Zeit umstritten – sie würden weitermachen. Genesis sollten auch ihren zweiten schweren personellen Verlust nach dem Ausstieg Anthony Phillips‘ 1970 verkraften und sogar gestärkt aus ihm hervorgehen. Jedoch war die weitere Ausrichtung der Band zunächst nicht klar. Erste Gedanken, als reines Instrumental-Quartett ohne Gesang aufzutreten, wurden schnell wieder verworfen.

Ziemlich bald nach dem Ende der The-Lamb-Lies-Down-On-Broadway-Tour begannen Genesis die Arbeit an ihrem neuen Album A Trick Of The Tail. Ziemlich bald wurde auch klar, dass man einen Sänger brauchte. Also begab man sich auf die Suche, ließ dutzende Kandidaten vorsingen. Doch einer erwies sich dabei als unpassender als der nächste. Dieser Prozess muss sehr frustrierend für die Band gewesen sein. Phil Collins hatte dabei die Aufgabe, den Bewerbern die Melodie der Songs beizubringen. Der Gesang war nichts neues für Collins. Schließlich durfte er schon bei den Songs For Absent Friends und More Fool Me die Hauptstimme übernehmen. Zudem war der zweistimmige Gesang mit Peter Gabriel immer ein wichtiges Element auf der Bühne gewesen und geradezu essentiell auf The Lamb Lies Down On Broadway.

coverFür Tony Banks und die anderen war es daher klar, dass Collins ohne Probleme ein paar ruhigere Stücke des neuen Albums singen könnte. Die etwas schmutzigeren Songs trauten sie seiner Chorknabenstimme allerdings nicht zu. Außerdem war er doch der Schlagzeuger und das sollte auch so bleiben. Als jedoch die Zeit und die Arbeit am neuen Album immer weiter voranschritt und mittlerweile auch der letzte Kandidat abgelehnt worden war, nahm Phil Collins sich das Mikro und versuchte sich am Song Sqounk. Und siehe da – es klang besser als alles was sie zuvor gehört hatten! Der Rest ist Geschichte, Phil Collins wurde zum Sänger von Genesis und legte dadurch den Grundstein für seinen späteren Status als Superstar.

Zurück zu A Trick Of The Tail. Nachdem die unbequeme Sängerfrage endlich gelöst war, begab sich die Band in die Trident Studios nach London um zusammen mit dem Produzenten David Hentschel ihr siebtes Studioalbum aufzunehmen. Tony Banks beschreibt die Arbeit am neuen Album als „sehr erfrischend“. Ohne den Exzentriker Gabriel stand die Musik wieder mehr im Vordergrund und die Ideen sprudelten nur so aus ihnen heraus. Außerdem gab es nun nur noch vier Autoren und damit war die Anzahl der Reibungspunkte im demokratisch organisierten Kompositionsprozess schon mal um eins reduziert.

Dance On A Volcano

Die Platte beginnt mit einem legendären Intro, das von Hackett und Rutherford geschrieben wurde. Klare Gitarren, ein wuchtiger Bass und Collins luftiges Schlagzeug geben die musikalische Richtung dieses Songs vor. In den Strophen gibt es dann ordentlich Krummtakt zu hören sowie einen verschrobenen, rasenden und komplex anmutenden Schlussteil, der wohl zu den frickeligsten Momenten gehört, die Genesis je produziert haben. Dance On A Volcano ist ein sehr abwechslungsreicher Eröffnungssong, ein regelrechtes Brett, in dem man das neue Selbstbewusstsein der Band in jeder Note spüren kann. Collins Gesang übrigens passt hier ganz ausgezeichnet und schon nach einem Song hat man fast vergessen, dass es jemals einen anderen Sänger bei Genesis gab.

Entangled

Nach diesem Parforceritt werden ruhigere Töne angeschlagen. Entangled webt zunächst ein filigranes Netz im Sechsachteltakt aus 12-saitigen Gitarren und dem mit viel Hall unterlegtem Gesang. Diese pastorale Stimmung wird hie und da von einigen Tupfern auf Banks neuem Arp Pro Solo Synthesizer unterstrichen. Am Schluss übernimmt dieses Instrument die Führungsrolle und Banks spielt ein sich langsam steigerndes Solo. Durch die dichten Mellotron-Chöre im Hintergrund fühlt man sich wie in einer Kathedrale und alles läuft unausweichlich auf einen Höhepunkt zu, an dem…

squonkSquonk

…plötzlich mit brachialer Gewalt die ersten Töne von Sqounk aus den Lautsprechern knallen! Zu Sqounk wurden Banks und Rutherford durch den Led-Zeppelin-Song Kashmir inspiriert. Sie wollten unbedingt dieses wuchtige Schlagzeug und diesen schleppenden Beat auf dem Album reproduzieren. Dies gelingt Collins auch in der Tat sehr gut. Zusammen mit Rutherfords kräftigen Basspedal braut sich ein Sound zusammen, der wie ein Gewitter durchs Wohnzimmer fegt und die Gehörgänge freilegt für neue Klänge im Genesis-Kosmos. Sqounk darf durchaus als erstes Kokettieren mit dem Bombast- oder Stadionrock interpretiert werden, den man Genesis immer vorgeworfen hat. Mit dieser Art Schlagzeug zu spielen, sollte Phil Collins einige Jahre später das Drumming im Rock- und Popbereich neu definieren.

Inhaltlich knüpfen Genesis mit Sqounk wieder an die Sagen- und Märchenwelt ihrer frühen Aufnahmen an. Der Squonk ist ein amerikanisches Fabelwesen, das in den Wäldern des nördlichen Pennsylvania sein Unwesen treibt. Dabei ist es von so abstoßender Gestalt, dass es bei jedem Versuch es zu fangen in einen „pool of bubbles and tears“ zerfällt.

Mad Man Moon

Es folgt eine typische Tony-Banks-Komposition. Banks brachte Mad Man Moon, welches er in Hinblick auf ein mögliches Soloalbum geschrieben hatte, bereits fertig mit zu den Aufnahme-Sessions. Dieser Song besticht vor allem durch das brillante Klavier und mutet teilweise nahezu klassisch an. Der Gesangsteil mit Collins‘ wehmütiger Stimme verbreitet eine Melancholie, die sich auf vielen Songs dieses Albums wieder findet. In der Mitte des Songs finden wir einen orchestralen Instrumentalteil vor, der durch kastagnettenartige Sounds eröffnet wird. Die folgenden komplexen Klavierpassagen dürften im Overdub-Verfahren aufgenommen worden sein, was diesen Titel live unspielbar macht – Schade! Nach dem Instrumentalteil nimmt der Song nochmals kurz Fahrt auf, um sich dann in der melancholischen Stimmung des Anfangs zu verlieren und mit Flötensounds und Klavier ganz leise zu verklingen.

officerRobbery, Assault And Battery

Robbery, Assault And Battery erzählt eine Räuberpistole, in der Collins verschiedene Rollen intoniert und steht damit in der Tradition von eher textlastigen Songs wie Get ‚Em Out By Friday oder The Battle Of Epping Forest. Musikalisch ist dieser Song eher schlicht gehalten. Kurz aufhorchen lässt ein Keyboard-Solo etwa in der Mitte. Rhythmisch ist Robbery…durchaus abwechslungsreich und es gibt sogar eine Spur Bombast mit Mellotron-Akkorden und flinken Basslinien von Rutherford. Insgesamt aber liegt hier für Genesis-Verhältnisse ein eher durchschnittlicher Song vor.

Ripples

Anders sieht es bei Ripples aus: Dieser Song wird von vielen Fans verehrt und war die große Überraschung in der Setlist der Reunion-Tour 2007. Ripples ist ein ruhiger Titel, in dem Collins, akustisch begleitet von Gitarren und Klavier, schmachtend seine Verse vorträgt. Auch hier begegnet uns wieder die angesprochene Melancholie in vollen Zügen. Das Bild eines nachdenklichen und vom Leben gezeichneten Mannes, der am offenen Meer sitzt und den Wellen zuschaut kommt uns in den Sinn. Im Instrumentalteil kommt plötzlich die Gitarre von Steve Hackett zum Vorschein. Mit geschmackvollen, langgezogenen Tönen vervollkommnet er das angesprochene Bild um die letzten Pinselstriche. Am Schluss darf Collins abermals ein wenig schmachten und der Song schippert knapp an der Kitsch-Grenze vorbei ins Fade-Out.

A Trick Of The Tail

Der Titelsong ist zugleich die Single. Tony Banks wollte mit diesem Stück, welches er bereits vor längerer Zeit geschrieben hatte, die leichte und schräge Seite von Genesis zum hervorkehren. Dieser Versuch ist durchaus gelungen, vor allem wenn man sich das zugehörige Promo-Video vor Augen führt, in dem sich ein pudelbemützter Phil Collins in einen Winzling verwandelt und ein Klavier von innen erkundet, während Hackett plötzlich Monsterpranken wachsen. Ansonsten ist A Trick Of The Taileher ein Liedchen als ein ausgewachsener Song, für den allein Genesis sicherlich nicht berühmt geworden wären.

Los Endos

Los Endos liegt das spannende Konzept zugrunde, verschiedene Melodien des Albums wieder aufzugreifen und zu einem neuen, eigenständigen Song zusammenzusetzen. Dabei ist unverkennbar ein Fusion- und Jazzrock-Einfluss zu hören, den Collins von seinen Ausflügen zu Brand X mitgebracht hatte. Der Sqounk-Teil zum Schluss verabschiedet Genesis am Ende der Platte mit voller Wucht und mit „there’s an angel standing in the sun“ wird sogar ein Vers aus Supper’s Ready zitiert. Eine Referenz an vergangene Zeiten am Schluss eines Albums, welches den Aufbruch in eine neue Ära kennzeichnet? Los Endos jedenfalls ist eines der besten Instrumentals die Genesis je gemacht haben und bis heute ein Live-Klassiker.

Das war es also, das Album Nummer eins nach der Ära Gabriel. Was bleibt hängen? Zunächst einmal eine beruhigende Erkenntnis: Genesis lebt! Jawohl, und das vielleicht mehr als je zuvor. Nie waren Genesis so dynamisch, so wuchtig, aber auch so melancholisch wie auf A Trick Of The Tail. Eins wird aber auch klar: Die Musik ist weniger kopflastig als zuvor, mehr einfache Gefühle werden angesprochen und Teile des Albums klingen spontaner, vielleicht sogar improvisierter als sonst. Hie und da werden bereits Elemente vorweggenommen, die den weiteren Weg der Band in Richtung Rock/Pop aufzeigen. Tony Banks manifestiert sich zudem immer weiter als Haupt-Songwriter, was spätestens bei dem nächsten Album zu unüberwindbaren Differenzen mit Steve Hackett und dessen Ausstieg führte.

mirrorMit Dance On A Volcano, Ripplesund Los Endos sind Stücke enthalten, die heute als Klassiker der Bandgeschichte gelten und die das Rückgrat vieler, vieler Konzerte gebildet haben. Daneben gibt es aber auch eher schwächeres Material wie Robbery, Assault And Battery oder den Titelsong. Aber das ist Jammern auf sehr hohem Niveau, denn insgesamt haben wir es hier mit einem der stärksten Alben der gesamten Genesis-Diskographie zu tun. Mit dafür verantwortlich ist auch eine gewisse Grundstimmung, die auf fast allen Titel vorherrscht und somit eine homogene Verbindung zwischen den Einzelteilen schafft.

Bleiben noch zwei Fragen offen: Wie nimmt die Öffentlichkeit das neue Werk auf und wie soll es live umgesetzt werden? Nach den eher gemischten Reaktionen auf The Lamb Lies Down On Broadway zeigten sich Kritiker und Fans glücklicherweise zufrieden mit dem Album und vor allem mit dem neuen Sänger Phil Collins. Damit wurde schnell klar, dass er auch live den Gesang übernehmen würde. Mit Bill Bruford (u. a. Yes, King Crimson) konnte ein exzellenter Schlagzeuger gewonnen werden, der auf der Bühne Collins instrumentalen Part übernahm. Da es sich dieser jedoch nicht nehmen lies, sich in jeder gesangsfreien Sekunde selbst hinter die Schießbude zu setzen, wurde das legendäre Doppel-Drumming geboren, welches künftige Genesis-Konzerte ungemein um eine weitere Attraktion erweiterte.

Vor seinem ersten Auftritt machte sich Phil Collins viele Gedanken darüber, wie er wohl als neuer Frontmann beim Publikum ankommen würde. Dabei war die spannende Frage vor allem, wie er die Pausen zwischen den Songs, in denen Peter Gabriel traditionell mit den Zuschauen kommuniziert, meistern würde. Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass Collins mit seinem schauspielerischen Talent und seinem Humor die Massen sofort im Griff hatte. Durch den Abschied Gabriels hatte Genesis zwar seinen schrägen, avangardistischen Charme auf der Bühne verloren, dafür aber mit Phil einen echten Entertainer gewonnen und damit einen wichtigen Grundstein auf dem Weg zu einer der erfolgreichsten Bands aller Zeiten gelegt.

Autor: Sebastian Wilken