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Genesis – 1970-1975 CD/DVD Promo Sampler – Rezension
Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus: Die Veröffentlichung des Boxsets 1970-1975 ist so ein Ereignis, auf das die Fans lange warten mussten. Neu abgemischt, aufgefrischt und dazu optional in 5.1 – die Gabriel Ära erstrahlt in völlig neuem Glanz. Nun sind die Promo-Sampler ausgeliefert worden. Eine Bestandsaufnahme …
Nun ist es soweit – die Veröffentlichung des SACD/DVD-Boxsets 1970-1975 steht in den Startlöchern. EMI lieferte vorab an die Medienpartner – wie schon bei den letzten beiden Boxsets – einen CD-Sampler und einen DVD-Sampler aus. Diese sind als Appetizer zu verstehen und sollen einen Eindruck zu den neuen Stereo und 5.1-Mixen vermitteln.
A History…
Bereits 2004 sollte The Lamb Lies Down On Broadway als SACD und DVD-Audio erscheinen. Was folgte, war eine lange Odysee voller Verschiebungen und Mißverständnisse. Schließlich entschied man sich, das ganze „richtig“ zu machen und alle Alben als SACD-Hybride mit Bonus-DVD zu veröffentlichen. Einer der Gründe für die Verschiebung war der Perfektionismus von Peter Gabriel. Dieser war nach dem ersten Hören nicht mit The Lambeinverstanden und schickte Nick Davis zurück ins Studio, um es „richtig zu machen“ und die „Möglichkeiten des Surround-Sounds“ zu nutzen. So verwunderte es nicht, dass parallel zur Turn It On Again Tour 2007 zunächst die Jahre 1976-1982 und später die Spätphase 1983-1998 als SACD veröffentlicht wurde. Tony Smith räumte Anfang 2008 darüber hinaus dann ein, dass man bzgl. des Gabriel-Ära Boxsets ein wenig auf eine mögliche Reunion-Tour mit Gabriel spekuliert hatte.
Bereits nach den Veröffentlichungen der ersten beiden Boxsets haben Fans über die Legitimation der „neuen Mixe“ teilweise hitzig diskutiert und gnadenlos Abweichungen und Fehler aufgedeckt. Zur Erinnerung: Auf Basis der alten Mastertapes wurden neue Stereo und 5.1-Surround-Mixe erstellt. Dies geschah möglichst nah am Original, so dass die Songs im Optimalfall deutlich besser, aber nicht anders klingen. Deswegen wurden auch keine neuen Aufnahmen oder Effekte verwendet – manche Hall-Effekte mussten aber neu produziert werden, da sie in den Mehrspurbändern nicht enthalten waren.
Nichtsdestotrotz wichen z. B. die Laufzeiten der Songs ab – in manchen Fällen wurden sogar falsche Aufnahmen verwendet – so ist der Basslauf bei Anything Now in einer Passage ein anderer, Dreaming While You Sleep enthält ein „oh“ zu viel und Anything She Does weist gleich eine ganze Reihe von Abweichungen auf. Dies sind nur drei Beispiele. Aus diesen Gründen kann erwartet werden, dass die Songs der Gabriel-Ära in ihren neuen Mixen eine leidenschaftliche, wenn nicht sogar verbissene Diskussion provozieren werden.
Die Promo-CD enthält folgende Tracks:
Happy The Man
Resignation
The Knife
Harold The Barrel
Musical Box
Get’em Out By Friday
I Know What I Like (In Your Wardrobe)
Cinema Show
Counting Out Time
Carpet Crawlers
Vorab muss gesagt werden, dass die neuen Mixe zu Happy The Manund I Know What I Like schon bekannt sind, diese wurden bereits auf Turn It On Again: The Hits (Tour Edition) veröffentlicht. Dennoch wurden erst vor kurzem, sozusagen posthum, von einigen Fans Abweichungen zum Original festgestellt – bei I Know What I Like ist das Flötensolo – oder zumindest Teile davon – in den Hintergrund gemischt worden. Außer den beiden genannten Tracks wurde auch bereits The Cinema Show in der neuen Version veröffentlicht – auf einem Mail On Sunday Promo-Sampler.
Die meiste Aufmerksamkeit dürfte das bislang unbekannte Stück Resignation wecken. Es ist Teil der legendären Jackson-Tapes und wurde mit auf den Promo-Sampler gepackt. Allerdings ist Resignation ein Instrumental, dazu ein relativ unspektakuläres, vielleicht mit der Ausnahme des Schlusses. Dazu ist es wenig aussagekräftig, so dass man davon ausgehen kann, dass bei der Auswahl der Songs für diesen Sampler wohl nicht die geballte Fachkompetenz am Werk war.
Weitere Highlights des Promo-Samplers: Counting Out Time und Carpet Crawlers– beide waren schon auf der Platinum Collection in neuen Versionen zu hören, diese hier sind noch einen Tick schärfer und präziser. Counting Out Time „spielt“ mit den Lead-Vocals, man merkt nicht mehr, wenn mal Phil, mal Peter dem Lead-Part übernimmt – faszinierend …
Carpet Crawlers gewinnt an Kontur, wirkt belebt, erfrischt, als hätte jemand den Song kalt geduscht und den Kreislauf damit in Schwung gebracht. Kurios: Am Ende fehlt ein Teil von Phils Background-Gesang – Fans merken eben alles …
Zu guter Letzt sei noch Get’em Out By Friday hervorgehoben. Dieser Song ist zum ersten Mal in einer neuen Version zu hören und auch hier gilt: Frischzellenkur-Alarm. Während Watcher Of The Skies (siehe unten) in der Studioversion nie wirklich funktioniert hat, ist es bei Get’em Out By Friday genau umgekehrt. Und so entfaltet sich der Song, Höhen klingen nun treffsicherer, die Drums präziser und Nebengeräusche können deutlich wahrgenommen werden. Hier steigt die Vorfreude auf den 5.1 Mix besonders.
Der DVD-Sampler vereint nun ein paar neue Surround-Abmischungen. Diese liegen im normalen Dolby Digital 5.1 vor, aber auch in sattem dts 5.1, was einer SACD relativ nahe kommt. Wir haben die Songs im dts-Sound getestet und liefern hier einen – zugegebenermaßen subjektiven – Überblick:
The Knife
Wenn es so etwas gibt, wie den Song, „mit dem alles anfing“, dann hat The Knife gute Chancen, diesen Titel zu erhalten. Auch die Promo-DVD fängt mit The Knife an, dabei war der Song vor allem immer eines: eine Zugabe. Doch mit The Knife begann der Kult der frühen Genesis und kurioserweise spielten Genesis den Song 1980 zum letzten mal – spätestens mit Duke erklärten die Fans der frühen Genesis die progressive Phase für beendet. Das Album Trespass hatte immer diesen anderen Klang – und es hatte einen anderen Drummer und Gitarristen als die anderen Alben der Gabriel-Ära, die im Boxset enthalten sind. Und schnell wird klar: Hier wird nichts aufpoliert, damit die Drums plötzlich wie Collins klingen. The Knifeist eigentlich ein unspektakulärer Remix. Es klingt allgemein relativ dumpf, wie schon im Original, hier und da hört man die Becken etwas klarer. Der Gesang ist nicht nur auf den Center-Speaker konzentriert. Gelegentlich, vor allem bei den „stand up and fight“-Passagen, wird Gabriels Stimme auf mehrere Boxen verteilt. Die Vermutung liegt nahe, dass aus The Knife nicht mehr herauszuholen war. Definitiv werden Puristen diese Version als Highlight bezeichnen.
The Musical Box
Mit Spannung erwartet werden natürlich die Surround-Versionen der Klassiker, darunter auch The Musical Box. Nick Davis hatte allerdings schon angekündigt, dass die Möglichkeiten bei Trespass und Nursery Cryme begrenzt sind, da hier noch keine 32 Spuren aufgenommen wurden, sondern nur 8 oder 16. Vor diesem Hintergrund könnte The Musical Box einer DER Gewinner der Neuabmischungen sein. Es klingt frischer, gewaltiger, an ruhigen Stellen vernünftig dezent und Surround-Effekte werden dort eingesetzt, wo sie Sinn machen (z. B. Phils Stimme, wenn er „here it comes again“ singt). Der Gesang profitiert wieder durch die Center-Abmischung. The Musical Box wirkt als Gesamtpaket verbessert, weitere Einzelheiten herauszuheben, wäre hier völlig fehl am Platz.
Watcher Of The Skies
Der Live-Klassiker wurde erst in den letzten Jahren wieder eindrucksvoll durch die kanadische Band „The Musical Box“ wiederbelebt. Die Impressionen der Live-Aufführung sind noch so frisch, dass man sich fragt, ob im Original nach dem Intro Phils Becken wirklich „nur“ eingefadet waren – aber das war in der Studioversion tatsächlich immer so. Das Intro wirkt im Surround-Sound gleich viel dramatischer, die einsetzenden Becken klingen brillant, die Bass-drum ist wuchtig – und das alles klingt klarer und erdrückt sich nicht gegenseitig. Die Snare-drum könnte hier und da lauter sein, dafür sind die Drums im Surround insgesamt interessant verteilt. Über den Center-Speaker wird hauptsächlich Gabriels Gesang ausgegeben, der dadurch wie bei zahlreichen anderen vergleichbaren Beispielen sehr klar rüberkommt. Steve’s Gitarre wandert im Surround durch den Raum und das Finale des Songs ist furios. Aber dennoch: Watcher Of The Skies war nie ein Studio-Track – es ist ein Live-Track …
Firth Of Fifth
Der Klassiker von 1973 enthält das definitive Steve Hackett-Solo. Dies wurde oft kopiert, aber nie erreicht. Technisch nicht das anspruchsvollste Solo, aber dieser Stil ist unkopierbar. Stuermer hat das gar nicht erst versucht, sondern spielte eine höher-schneller-weiter-Variante und Drennan war 1998 zwar nah dran, aber niemals beeindruckend.
Der Song bliebt bis heute einer der stärksten Genesis-Songs überhaupt – nicht zuletzt deswegen hat er selten im Live-Repertoir der Band gefehlt – bis heute.
Die 5.1-Version auf dem DVD-Sampler wird diesem Anspruch mehr als gerecht. Wie zu erwarten war kommen Percussion-Elemente zum Vorschein, die vorher kaum oder gar nicht zu hören waren. Gabriels Stimme kommt schwerpunktmäßig aus dem Center-Speaker, die Drums sind druckvoll und der Bass den verschiedenen Phasen des Songs angemessen druckvoll oder dezent. Der absolute Höhepunklt ist der Instrumentalteil. Auch hier beginnt es mit vielen aha-Effekten bzgl. der Percussions, ehe Hacketts Solo den Zuhörer verzaubert. Die Lead-Gitarre ist auf den Center-Speaker konzentriert, genau wie die Lead-Stimme zuvor. Dieser Effekt rückt Hacketts Arbeit ins Zentrum des Geschehens. Und plötzlich hört man auch die 12-string-Gitarre in den Rear-Speakern. Collins Drums treiben den Song an, ehe am Ende Tonys Klavierspiel den Song leise ausklingen lässt.
Viele werden Firth Of Fifth in dieser Surround-Version neu entdecken, ein absolutes Juwel feiert eine frischzellenkur-inspirierte Wiederauferstehung.
Twilight Alehouse
Der Song wird auf der Extra-Tracks SACD/DVD enthalten sein. Twilight Alehouse war seinerzeit eine B-Seite (auf der Single I Know What I Like). Der Song entstand aber bereits wesentlich früher während der Sessions zu Nursery Cryme. Entsprechend muss man auch den 5.1-Mix vor diesem Hintergrund bewerten. Die luftigen Stellen, wie z. B. der Beginn, profitieren deutlich vom 5.1-Sound und der neuen Abmischung. Bei den dichter instrumentierten Elementen des Songs kann man aber keine deutliche Verbesserung feststellen. Grund dafür dürfte das Basismaterial sein, das zu Zeiten von Nursery Cryme einfach weniger ausdifferenziert war als später zur Selling England By The Pound-Zeit. Positiv fällt auf, dass die Bass-Drum nicht planlos, sondern ausgewogen abgemischt wurde – je nach Gesamtatmosphäre der entsprechenden Songstellen. In der ruhigen Phase bei etwa 5.00 min kann man dann wieder erstaunliche Effekte hören, besonders die Flötenparts kommen gut zur Geltung. Das Finale ist druckvoll und klingt auch besser als die „lauteren“ Passagen zuvor.
In The Cage
Die größten Erwartungen liegen seit Jahren auf den Neuabmischungen des Mythos The Lamb Lies Down On Broadway. Es gibt bessere Genesis-Alben, A Trick Of The Tailund Selling England By The Pound stehen bei Genesis-Fans durchaus höher im Kurs. Gleichzeitig sind diese beiden Alben auch besser produziert als The Lamb. Und so fragt sich der Fan, was Nick Davis aus dem Album rausholen kann – zumal er von Peter Gabriel zwischenzeitlich zurück ins Studio geschickt wurde, um vor allem aus dem 5.1-Mix mehr herauszuholen. Mit einer dezenten Version ist also angesichts von Peters Faible für Effekte nicht zu rechnen. Bei In The Cage fällt im Vergleich zu zum Beispiel Firth Of Fifth schnell auf, dass man beim Selling-Album sorgältiger aufgenommen hat. Der gesamte Grundsound des Lamb-Albums fällt im Vergleich dazu ab. Der 5.1-Mix von In The Cage ist aber ein erfreuliches Erlebnis. Zwar ist es nach Jahrzehnten irgendwie komisch, dass Peter Gabriel diesen Song singt (Phil Collins sang das Stück auf fast jeder Genesis-Tour seit 1976) und es ist auch unbestritten, dass die Live-Versionen dieses Songs eine Steigerung im Vergleich zur Studioversion sind – jedoch entlockt Nick Davis dem Song ungeahnte Tiefen. Das ein oder andere Percussion-Element wird nun aus den Rear-Boxen gezaubert und ist nicht wie in den alten Stereo-Versionen vom Gesamtklangteppich zugekleistert worden. Das Schlagzeug erreicht nicht die Brillanz wie auf der Live-Aufnahme des Archive 1967-1975-Sets, dafür verfehlt Mike Rutherfords Basslauf nach der Textzeile „my little runaway“ seine Wirkung nicht. In The Cage ist als 5.1-Version ein echtr Appetizer und deutet vermutlich nur an, was mit dem 5.1-Mix von The Lamb wirklich auf uns zukommt.
Fazit
Wie schon bei den Promo-Samplern des zweiten Boxsets ist auch bei diesen Samplern die Songauswahl etwas merkwürdig und es darf bezweifelt werden, dass diese Songs einen repräsentativen Eindruck des gesamten Boxsets vermitteln können. Auf jeden Fall deuten die Songs der Sampler an, was auf uns zu kommt und sie machen Lust auf mehr. Und schon muss man einsehen, dass der Zweck erfüllt ist. Ob dies allerdings auch bei Journalisten der Fall sein wird, bleibt abzuwarten.
Die größte Prüfung sind am Ende ohnehin die Fans. Sind das nun die definitiven Versionen der Songs? Oder sind es Variationen, die mehrheitlich als Bonus gesehen werden, nicht aber die Ursprungsversionen ersetzen können? Das werden die Fans entscheiden …
Autor: Christian Gerhardts
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