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Genesis – 15 Jahre Calling All Stations – ein Rückblick

Am 1.9.2012 jährt sich die Veröffentlichung des letzten Genesis-Studioalbums mit neuen Songs zum 15. Mal. Grund genug, die Geschichte rückwärts zu sehen und das Album noch einmal mit älteren Ohren zu hören.

Genesis waren immer eine Band, die auf dem „River Of Constant Change“ Fans verloren, aber auch Fans hinzugewonnen hatte. Kleinere und größere musikalische Brüche der Bandgeschichte gingen oft mit Personalwechseln einher. Dennoch gelang es der Band immer wieder, sich für neue musikalische Fangruppen interessant zu machen. Bis We Can’t Dancevermehrte die Band ihre Fangemeinde, jedoch es war allen Beteiligten klar, dass der Neustart nach dem Ausstieg von Phil Collins eine ganz andere Herausforderung darstellen würde, als alle Personalwechsel zuvor.

Die 90er waren insgesamt musikalisch ein denkwürdiges Jahrzehnt. Nachdem die 80er nicht viel musikalische Substanz zutage brachten und vor allem der Sound diese Jahre prägte, wurden die 90er zu einer Experiment-Orgie vieler Bands. Neue Bands sorgten für frischen Wind – Grunge, Drum & Bass, Trip Hop und allerlei elektronische Musik setzte an, die Normen üblicher Rockbands auf den Kopf zu stellen. Dazu kamen eher schon ältere Hasen, die stilprägend wurden. U2 etwa kamen vermutlich der Situation überlebt zu werden zuvor, indem sie mit Achtung, Baby! und Zooropa gleich mal den Ton angaben, wie die 90er zu klingen haben. Wer in den 90ern interessant bleiben wollte, der musste grandiose Ideen hervorbringen oder provokante Stilbrüche riskieren, wie es etwa R.E.M. nach ihrem Überalbum Automatic For The People mit dem brachial-lauten Monster taten. Dann gab es noch eine Band namens Pink Floyd, die vermutlich auch das Telefonbuch auf Vinyl hätte veröffentlichen können, gekauft wäre es trotzdem worden, obwohl das Vinyl zu jener Zeit verkaufstechnisch überhaupt keine Rolle mehr spielte.

Genesis ließen sich nach We Can’t Danceund der triumphalen Welttournee viel Zeit für ein neues Album und der Verlust des Sängers und des Schlagzeugers bedeutete zwangsläufig, dass die Band sich verändern musste. Als Sänger wurden viele Namen gehandelt – Nick van der Ede von Cutting Crew wurde es vermutlich auch deswegen nicht, weil er eben ein typisches 80er-Jahre-Symbol ist. Am Ende bekam der Schotte Ray Wilson den Zuschlag, der mit seiner prägnanten Stimme der Grunge-Band Stiltskin zu einem Mega-Hit (Inside) verhalf. Grunge und Genesis – kann das gut gehen?


Genesis 1997
Düsterer, proggiger, mehr Genesis … es wurden viele Attribute gestreut für die „neuen“ Genesis. Tatsächlich haben Banks und Rutherford ohnehin über die Jahre die meisten Songs geschrieben und so war es durchaus spannend zu sehen, ob die neue Reise in andere Gefilde gehen würde. Im August 1997 fand sich die Band dann zum Album-Launch-Event im Berliner Fernsehturm ein. Auf dem Programm standen Interviews sowie vier Live-Songs, die unplugged vorgetragen wurden – auch ein Novum in der Bandgeschichte. Bei diesem Event kam es zu zwei denkwürdigen Momenten: Ray Wilson sang No Son Of Mineund schlagartig war klar – der kann es. Für viele Fans und auch Teile der anwesenden Presse war das ein Schlüsselmoment. Als er dann auch noch Lover’s Leap überzeugend darbot, konnte man frohen Mutes sein.
1997 war auch eine Zeit, in der z.B. eine Band wie LIVE mit dem eher düsteren Album Throwing Coppereinen Riesen-Hit landete – vor allem in den USA (Songs wie Lightning Crashes, I Alone oder All Over Youwaren damals auch in Deutschland höchst populär). Gut möglich, dass man bei Genesis auf einen ähnlichen Erfolg in Nordamerika hoffte, denn Calling All Stationsging stellenweise in die gleiche Richtung. Der Titelsong ließ aufhorchen – wann hat ein Genesis-Album schon mal mit einer derart dominanten Gitarre begonnen? Weitere Songs ließen sich gut in die „gut-hörbar“-Kategorie einsortieren, Shipwrecked und Not About Us sind heute noch kleine, feine Songs, die man immer mal wieder hören kann. Mit Congo wagten Genesis dann wieder mal mehrere Songabschnitte innerhalb eines relativ kurzen Songs (die Single-Version mal ausgeklammert). Problem: Das Keyboard-Solo ist fast das banalste, das Calling All Stations zu bieten hat – aber nur fast, denn das Ganze wird mit There Must Be Some Other Waynoch getoppt. Bei diesem Song sickerte zuvor die Info durch, er wäre „similar to Home By The Sea“ und tatsächlich, ein wenig erinnert der Songaufbau auch an den Klassiker, aber es zündete nicht richtig – was auch an dem indiskutablen Keyboardsolo lag.

Welche Qualitäten Rays Stimme dagegen hat, konnte man auf Uncertain Weather bestaunen. Diese längere Ballade hätte eine Perle werden können, aber das Album enthält mit If That’s What You Need auch eine recht enttäuschende Light-Version dieses Stils. So wirkt eines von beiden wie Füllmaterial und Uncertain Weather hängt in der Luft.

Das Potenzial angedeutet, aber nicht ausgereizt hat die Band mit Small Talk, das sogar mal als Single geplant war. Doch hier ging die Band nicht weit genug: Mehr Gitarren, etwas frecher arrangiert und ein ausgefeilteres Ende – und Genesis hätten ein neues Keep It Darkoder All In A Mouse’s Nightgehabt. Derweil muss man die Frage aufwerfen, wo die Rückkehr zum Prog eigentlich geblieben ist? Die sollte mit Alien Afternoon einkehren, aber das Stück bleibt Stückwerk, bis auf das fantastische Finale. Etwas sperrig bleibt auch der Abschluss One Man’s Fool, wenngleich hier noch am deutlichsten wird, wie es hätte sein können. So ist es insgesamt ein Banks-Album mit Mechanics-Einfluss geworden, aber eine Ausnahme gibt es: The Dividing Line:


Genesis live 1998
Es ist schon ein Treppenwitz der Geschichte, dass das erste Drumsolo auf einem Studioalbum von Genesis nach dem Ausstieg von Phil Collins zu hören ist. Doch The Dividing Line ist viel mehr, das gesamte Potenzial legte der Song erst in der Live-Version frei. The Dividing Line ist Genesis pur und neben dem Titelsong ein Hinweis, dass es auch ohne Collins hätte gehen können, wenn man die Stärken deutlicher ausgespielt hätte. Vom Guitar Battle während der Live-Performance von The Dividing Lineschwärmte Anthony Drennan erst kürzlich noch im it-Interview.

Kurios: Die interessanten Stücke schienen die B-Seiten zu werden. Dort gab es mit Banjo Maneine fast absurde Mitwippnummer, mit Papa He Said eine schräge Sprechgesangnummer, da gab es mit Sign Your Life Away eine strighte Rock-Pop-Nummer, die aber zu recht als nicht gut genug für das Album empfunden wurde, dann gab es mit Anything Now einen Hauch von Prog mit einem besseren Mittelteil als There Must Be Some Other Way und einer flüssigeren Melodie und das Balladenjuwel Run Out Of Time. Ein weiterer Song, Nowhere Else To Turn, wurde in Fankreisen schnell bekannt, doch dieser hätte sich ohnehin auf einem Mechanics-Album besser zurecht gefunden. Dazu kam, dass die allermeisten Songs recht merkwürdige Fade-Outs hatten. Hier scheint irgendwer die Lust verloren zu haben, konsequent an dem Album zu arbeiten.

So ist Calling All Stations ein Album voller Widersprüche, verpasster Chancen aber auch vielversprechender Ideen. Welches Potenzial die Band gehabt hat, werden wir nie erfahren, denn Tony und Mike entschieden, das Projekt nicht weiter zu verfolgen.

Seinerzeit herrschte bei den Fans eine Mischung aus Aufbruchstimmung und Resignation. Viele Fans, die Genesis wegen der Collins-Ära schätzten, waren skeptisch und wussten teilweise nichts mehr mit ihrer Band anzufangen. Fans der frühen Jahre hofften auf eine Besinnung auf die Wurzeln und einige andere hofften auf eine musikalische Bandrevolution und den „Blick nach vorn“.

Rückblickend ist man immer schlauer, aber vermutlich wäre es richtiger gewesen, zunächst eine Art Club-Tour oder Unplugged-Tour mit Ray Wilson zu machen, bei dem er altes Material und 3-4 neue Songs singt, um dann mit neuem Album und großer Live-Show durchzustarten. Niemand weiß natürlich, ob das funktioniert hätte.
Dann kam irgendwann die Reunion-Tour mit Phil Collins und die Stimmung unter den Fans gegenüber Calling All Stations schlug fast völlig um ins Negative. Dabei offenbarte die 5.1-Version noch mal eine versteckte Seite des Albums, die durchaus hörenswert ist. Es bleibt diskutabel, ob die US-Schlappe alleine dafür verantwortlich ist, dass es damals nicht weiterging. Genesis wirkten 1997/98 ein wenig wie ein Fremdkörper im Musikbusiness. Ihr Erfolg war kein Selbstläufer mehr, aber zumindest in Europa konnte man sich kaum beschweren.

Nun ist es 15 Jahre her, dass Calling All Stations gegen die Marktgesetze, gegen viele Fans und allen Unkenrufen zum Trotz den 2. Platz der Charts in England und Deutschland erreichte. Vielleicht ist das Grund genug, diesem Kapitel der Bandgeschichte noch mal etwas Aufmerksamkeit zu schenken.


Autor: Christian Gerhardts – 01.09.2012
Presse-Photo: Peter Robathan
Live-Photo: Helmut Janisch

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