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Brand X – Livestock – Album Rezension

Das erste Live-Album von Brand X, Livestock, erschien 1977 nur wenige Wochen nach Seconds Out von Genesis. Thomas Jesse kennt die Details.

1977 hatten Brand X für Phil Collins, der immer mehr mit Genesis beschäftigt war, mit Kenwood Dennard einen Ersatz gefunden. Mit ihm ging man im Juni / Juli auf eine erste US-Tour, um die dortige Anhängerschar zu bedienen. *1

Brand X waren in der Zeit ein aufsteigender Stern am Jazz-Rock-Fusion-Himmel. Sie hatten zwei erfolgreiche Studio-Alben veröffentlicht und tourten immer intensiver in Clubs und kleineren Hallen, um den Erfolg weiter anzuheizen. Viele Tourneen bringen weniger Zeit für Studio-Aktivitäten. Das und der Grund schnell die Nachfrage zu stillen, veranlasste Charisma ein Live-Album auf den Markt zu werfen. Es erschien im Vorweihnachtsgeschäft am 18.11.1977, also rund einen Monat später als Seconds Out von Genesis.

Album – Titel und Gestaltung:

Der Titel des Albums bedeutet lebendes Inventar, das Vieh, der Viehbestand. Er ist hier wohl als Allegorie auf eine lebendig – live – spielende Band zu sehen: lebendes Inventar eines Clubs, welches sich mit einem ebenso lebendigen Publikum verbindet.

Die Cover-Gestaltung übernahm einmal mehr Hipgnosis. Vor einer dunklen, einsamen Landschaft ist der Türrahmen einer Limousine, aus der die Beine einer im aussteigen begriffenen Frau herausragen, zu sehen. Die Rückseite ziert nur noch die Landschaft, ein Stück Chrom des Autos und Farbfotos der Musiker, die sich von Schwarz-Weiß des Covers absetzen.

„Set against the rolling hills of Berkshire, the picture is as much about the endless travel that musicians experience on the road and the loss of a normal life outside that peculiar bubble. The expensive and half-invisible limosousine is a life half missing, the girl is the temptation inside the bubble; the landscape behind is the normality that dissapears over the horizon. This is a Hipgnosis visual interpretation oft he narrative. We couldn’t tell it in a song but we could in a picture.“*2

Leider wurde kein Doppel-Album veröffentlicht. In den USA erschein begleitend eine Promo – Maxi, X-Cerpts, mit gekürzten Versionen (Die Kürzungen werden euphorisch auf der Cover-rückseite beworben!) von Euthanasia Waltz, Malaga Virgin und Nightmare Patrol, sowie ein Studio-Outtake der Moroccan Roll-Sessions, Genocide Of The Straights.

Livestock

Leider stammen die fünf Stücke des Albums nicht von einer Show. *3

Es fanden Aufnahmen von drei verschiedenen Events und Locations Eingang in die LP. Somit entsteht eher der Eindruck eines Samplers. Der leicht negative Beigeschmack verflüchtigt sich, sobald man sich die Songliste ansieht. Von den fünf Stücken sind drei neu, bzw. bis dato nie als Studioversionen veröffentlicht worden. Auch wird bei den Aufnahmen nicht in Gänze auf Phil Collins verzichtet. Er spielt auf drei Stücken Schlagzeug und auf den anderen beiden unterstützt er Kenwood Dennard an den Percussions.

Nightmare Patrol

Aufgenommen am 05.08.1977 im Hammersmith Odeon in London. Phil Collins spielt hier als Gast mit und unterstützt Drummer Dennard an den Percussions. Ein neues Stück, das von Goodsall und Dennard komponiert wurde. Mit leisen, möwenartigen Geräuschen werden wir in das Konzert „hineingefadet“. Die Gitarre begrüßt uns, um dann von Bass und Schlagzeug in eine sehr improvisiert klingende Kaskade von Jazzrock gezogen zu werden. Das Piano beginnt zu perlen, zahlreiche Rythmuswechsel schlängeln sich bis zum krönenden Finale mit herrlichen Gitarrensoli eines Al Di Meola würdig. Welch ein Bass, welch wetteifernde Percussion-Drum-Wirbel! Eine Tour de Force durch den Kosmos von Brand X, der ganz leise nach 8 Minuten  endet.

Ish

Das vorher unveröffentlichte Stück wurde ein Jahr früher im August/September 1976 im Ronnie Scott’s in London aufgezeichnet. Hier spielt die Besetzung des Moroccan-Roll-Albums groß auf. So begrüßt uns ganz entspannt der Bass von Jones mit perkussiven Einlagen von Collins und Pert. Die Ruhe wird von Collins stürmischem Schlagzeug hinweggetrieben, Gitarren säuseln, der Bass blubbert, der Synthi quäkt. Es packt den Hörer, zieht ihn hinab in eine Klangwelt, in der er entspannt mitwippen kann. Konzentriertes zuhören macht Spaß, weil man so viele Klangdiamanten entdecken kann. Jedes Instrument bekommt sein Solo, insbesondere die Gitarre von Goodsall brilliert, mal rythmusdienlich, mal melodieführend.

Euthanasia Waltz

Dieser Walzer vom Unorthodox Behaviour Album wurde am 23. 04. 1977 im Marquee Club aufgenommen. Auch hier konnte Phil mitspielen, da Genesis eine Tournee-Pause eingelegt hatte. Das Stück wird geradliniger, rockiger als die Studioaufnahme dargeboten. Die Gitarre klingt härter. Hach, wie der Collins hier spielt und der Lumley erst! Ein Highlight des Albums, aber ein Walzer? Eher eine akustische Achterbahnfahrt, die leider in einem schnellen Fadeout verschwindet. Das musste nun wirklich nicht sein!

Isis Mourning (Part 1 & 2)

… stammt wie Ish aus den Shows im Ronnie Scott’s 1976 und stellt ebenso ein unbekanntes Stück dar. Ganz relaxed beginnt es mit Schlagzeug und Percussion, die sanft von Keyboards begleitet werden. Die Gitarre legt sich ebenso sanft darüber und der Bass verbindet das Spiel. Relaxed, dahinschwebend, nahezu entspannend, ambientlastig treibt die Band den Hörer den musikalischen Fluss hinab. Gelegentliche solistische Ausbrüche erschrecken nicht, gleichen Strudeln, die umschifft werden. Die Percussions säuseln wie kleinen Wellen, die ans Ufer drängen. Im Part 2 wird die Kulisse etwas düsterer, bedrohlicher, doch die Flussfahrt wird nur geringfügig schneller. Die Band hätte noch stundenlang so relaxed improvisieren können, ringt sich aber zu einem schäumenden Finale und endet abrupt.

Malaga Virgin

Halt, nicht hinwegschlummern! Nun kommt das am 05.08.1977 im Hammersmith Odeon gespielte Finale des Albums: Hart, basslastig, schlagzeugwummernd. Ein Rocker, mit ein wenig Jazz. Dennard spielt klasse, eines Collins würdig. Der Bruch in der Mitte des Songs überrascht mich immer wieder. Schlagartig wird es ruhiger, jazziger. Percy Jones kann sich austoben, Gitarre und Keyboard streiten sich um die Vorherrschaft. Natürlich kann keiner gewinnen. Gewonnen haben jedoch die Zuhörer, die diesem tollen Stück mit seinem Finale Furioso zuhören, dem Bandspiel zu sehen konnten.

Fazit

Ein schöner Sampler, der wenig Live-Atmosphäre verbreitet, aber gut das musikalische Konzept der Band darstellt. Der Hörer wird mit schönem, teils improvisierten, aber doch immer einer Struktur folgendem Jazzrock konfrontiert. Brand X bewegen sich auf den Spuren von Weather Report, dem Mahavishnu Orchestra und ähnlichen Acts der Fusion Music. Es ist zu sehen, wie sich die Band langsam vom immer berühmter werdenden Phil Collins emanzipiert.

Allerdings den Schritt ganz von ihm weg, mit Live-Aufnahmen ohne ihn, wagte man hier noch nicht. Phil dagegen spielte und spielte, immer öfter mit Genesis auf langen Tourneen, gelegentlich mit Brand X zu Hause in London, oder in anderen Sessions. Ein Live-Album geteilt in Aufnahmen mit Phil und ohne ihn von z. B. der US – Tour im Frühsommer 1977 wäre reizvoller gewesen. So ist das Album etwas orientierungslos: Futter für die Die Hards, oder eine Einführung für neue Hörer? Für erstere zu wenig und für letztere zu kompliziert?

Der Rezensent jedenfalls mag es und empfiehlt es mit dem zwei Jahre später folgenden Product als Einstieg in die Welt von Brand X, die viel mehr als nur die Freizeitband von Phil Collins ist.

*1: Tiefergehende Informationen sind der wundervollen Bandgeschichte von Steffen Gerlach zu entnehmen: https://www.genesis-fanclub.de/c-Brand-X-An-Unorthodox-History-c283.html
*2: Aus: Aubrey Powell, Vinyl. Album. Cover. Art, The Complete Hipgnosis Catalogue, London 2017, S. 217
*3: Jahre später sollten Aufnahmen kompletter Shows als offizielle Bootlegs erscheinen. Sie sind nun in einer Box, Livevox, erhältlich.

In Memoriam Morris Pert, 08.09.1947 – 27.04.2010

Autor: Thomas Jesse

Livestock