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Anthony Phillips – The Archive Collection No. 1 – 2CD Rezension
Nicht nur Genesis öffneten ihre Archive, auch Urmitglied Anthony Phillips hat seinen Speicher entstaubt und erlaubt den Fans mit einer Doppel-CD einen tiefen Einblick in sein Schaffen, das zurück geht bis zu seinen Tagen bei Genesis.
Ganz im Sinne der Nostalgiewelle, auf der unsere Genesis-Helden derzeit treiben, startet Anthony Phillips nun mit The Archive Collection eine neue, dritte Serie von Alben. Sie überschneidet sich in ihrer Intention mit den Private Parts And Pieces, welche aber doch oftmals aufbereitet sind oder gar neues Material darstellen, und auch mit der Missing Links-Reihe (besonders mit The Sky Road), die sich aber offenbar mehr auf TV- und Library-Arbeiten spezialisiert.
Teil eins der Archivsammlung basiert zum Teil auf jenem Fund in Ants Dachboden vor drei Jahren, der auch In The Wildernessund Build Me A Mountain von Genesis‘ Archive 1967-75zutage gefördert hatte. Mit Hilfe von Jonathan Dann vom offiziellen Anthony Phillips-Fanclub „The Pavilion“ stellte Ant dann einen Streifzug durch die Jahre 1969 bis 1990 zusammen, den wir nun in chronologischer Folge betrachten wollen:
Vom September 1969 stammen drei Demo-Aufnahmen Ants mit Mike Rutherford. F Sharp(„Fis“: so benannt, weil die drei oberen Gitarrensaiten in Fis gestimmt gewesen seien) stellt – und das ist der ultimative digitale Beweis, dass Ant stets um die Writing-Credits bei diesem Genesis-Song betrogen wird – eine der späteren Version schon sehr ähnliche Instrumental-Aufnahme (zwei zwölfsaitige Gitarren) von Teilen der Musical Box dar. Das Demo von The Geese And The Ghost, seinerzeit noch 0 Instrumental genannt, ebenfalls mit den beiden Gitarren gespielt, kommt den 1974 aufgenommenen Gitarrenparts der Album-Version verblüffend nahe; ein späterer Drumfill wird durch Klopfen auf den Gitarrenkorpus improvisiert. F Sharp 2ist ein bisher unbekannter Titel mit Rhythm-&-Blues-Elementen; unter technisch sehr schwierigen Bedingungen – man hörte die erste Spur nur aus einem winzigen Lautsprecher – wurden hier Overdubs vorgenommen mit Ant am Schlagzeug, Mike am Bass und Richard Macphail mit dem Tamburin. Zwei weitere Demos wurden von Ant im Sommer 1970 aufgenommen. God If I Saw Her Now ist arrangiert wie die Album-Version, die Phil Collins und Viv McAuliffe auf The Geese & The Ghost im Duett sangen, der Gitarrensound ist freilich weniger brillant, und Ant haucht alle Lyrics selbst.
Bei In Memoriam ADhandelt es sich um das spätere Reaper (auf Private Parts And Pieces), mit der hervorgehobenen Solostimme ähnelt es vor allem auch der Alternativversion Electric Reaper aus der Scottish Suite (auf Back To The Pavilion); wer oder was „AD“ ist, klären die Anmerkungen im CD-Booklet nicht; Harry Williamson tritt hier als Co-Produzent auf. Das Klavier-Demo des von Ant und Mike geschriebenen Kirchenliedes Take This Heart, welches später in einer Aufnahme mit dem Charterhouse-Schulchor auf dem sehr raren Charisma-Sampler Beyond An Empty Dream(Songs For A Modern Church) veröffentlicht wurde, nahm Ant 1972 auf;wer diesen Sampler nicht hat, kann sich nun mit Hilfe dieses Demos und des Lyric Books das Lied zusammensetzen. Aus dem gleichen Jahr datiert die Aufnahme des sehr gefälligen instrumentalen Rowey Song, der erst 1997 wiederaufgefunden wurde, ebenso wie die Rowey Reprise, die statt einer mehrere Gitarren enthält. Which Way The Wind Blows von 1974 ist mit der bekannten Album-Version (The Geese & The Ghost) identisch bis auf die Tatsache, dass hier Ant singt; im Vergleich fällt auf, dass Phil mehr mit seiner Stimme spielt, längere Noten mehr auskostet, stimmhafte „S“-Laute auch stimmhaft singt und insgesamt durch Artikulation und Phrasierung den Text treffender interpretiert; das instrumentale Nachspiel fehlt, und Mike wirkt hier an Gitarre und Glockenspiel mit.
1975 entstand der „kiddies mix“ von The Geese And The Ghost; man hört einen Auszug aus Teil 1 des Stückes mit Hervorhebung der Holzblasinstrumente (Ants Bruder Rob an der Oboe, John Hackett an der Flöte), den man als Musik für Kindersendungen für geeignet hielt, wenngleich er nie dafür verwendet wurde.Zwei Demos für das Wise After The Event-Album stammen aus dem Jahre 1977. Beside The Water’s Edgewurde 1969 mit Mike geschrieben und wird hier von Ant gesungen und auf der Gitarre begleitet; obwohl es nicht ganz langweilig ist, tat Ant wohl gut daran, es zugunsten besseren Materials nicht für das Album aufzunehmen. Anders sieht das beim Hunt Song aus, wie Now What (Are They Doing To My Little Friends?) zunächst hieß; neben Ants diversen Gitarren und Gesang hört man hier auch sein seltenes Mellotron-Spiel bei diesem großartigen Song.
Vierfach ist das jahr 1978 repräsentiert. Lucy Will ist eine Demo-Aufnahme, die der späteren Version vom Sides-Album bereits sehr nahe kommt. Von Holy Deadlock (vom selben Album) erhält man einen kurzen Ausschnitt ausschließlich mit dem dreistimmigen Gesang von Ant, Dale Newman und Dan Owen sowie Michael Giles‘ Perkussion. Daran schließt sich Catch You When You Fallan, mit Michael und Bassistlohn G. Perry (man höre die Bass-Vibratos) ebenfalls für Sides aufgenommen, doch wegen unbefriedigender Lyrics (die man hier nicht hört) bis heute zurück gehalten; es handelt sich um ein lustiges Stückchen, beinahe Muzak (Kaufhausmusik), und klingt, wie wenn die Wombles an einem sonnigen Tag einen Ausflug in die Berge machten … Die Study In G war bisher nur in schriftlicher Form veröffentlicht, nämlich in Ants 1980 bei Josef Weinberger erschienenen (und heute noch erhältlichen) Six Pieds For Guitar (eigentlich sind es sieben Stücke); die Aufnahme stammt von einem Demo-Band für Weinberger und ist ein weiterer Beweis dafür, dass man diese Noten auch spielen kann …1981 nahm Ant in den Londoner Logorhythm Studios die Musik für die sechsteilige britische Dokumentationsreihe „Rule Britannia“ auf, von der wir hier das Abspann-Thema hören (erinnert an 7984 oder Finger Painting); dieses Projekt brachte Ant erstmals in Kontakt mit dem japanischen Perkussionisten Joji Hirota, der aber hier nicht vertreten ist. Weiter geht es mit den 1983er Instrumental-Mixes zu zwei Songs von Invisible Men, Exocetund The Women Were Watching; beide unterscheiden sich geringfügig von den instrumentalen Backing-Tracks des Albums, sind aberausgefallen bzw. kraftvoll genug, um immer wieder gehört zu werden. Wer den Vinyl-Sampler Double Exposure nicht erwerben konnte, der Ants Promenade mit zwölfsaitiger Gitarre und Synthesizer-Streichern enthält, bekommt mit der hier enthaltenen, 1986 aufgenommenen Alternativersion (nur Gitarre) einen nicht ganz gleichwertigen Ersatz dafür, aber in CD-Qualität. Back To Plutoaus dem darauffolgenden Jahr ist ein kurzes, explosionsartiges Synthesizer-Stück ganz im Sinne der Weltraum-Titel (z. B. Pluto Garden) von Slow Waves, Soft Stars; erstmals seit 1992 taucht hier Sir Ralph wieder auf: „Features Ralph Bernascone on meteorite.“
Schließlich wurden noch zwei Aufnahmen von den 1990er Slow Dance-Sessions mit auf die CD gepackt, nämlich ein Single-Mix, der eine bisher unbekannte Variation über eines der Themen darstellt, den Virgin aber leider nicht als Single herausbringen wollte, und The Burnt-Out Cattle Truck Hits The Road: Gewöhnlich stecken bei Ant hinter den längsten und absurdesten Titeln die kürzesten und belanglosesten Aufnahmen, und hier hören wir ein sehr kurzes Intermezzo aus rückwärts aufgenommener Gitarre und Synthesizer.
Da die CD hiermit prall gefüllt ist, man aber noch Material übrig hatte, entschloss man sich, die ersten 1000 Exemplare der CD durchzunumerieren und mit einer Bonus-EP zu versehen. Diese enthält fünf weitere Aufnahmen: What Is The Meaning?und Farewell stammen ebenfalls von Ants und Mikes 1969ger Demo-Tape und sind beide unter CD-Track ‚3‘ zusammengefasst; die düstere Atmosphäre, auch durch die nicht ganz brillante Tonqualität dieses Demo-Bandes bedingt, wird durch Ants Orgel-Overdub bei What Is The Meaning? noch verstärkt. Das Demo von Queen Bettine, einem Phillips/Rutherford Song, nahm Ant 1972 mit Gitarre und Gesang auf; der Gitarrenpart ist sehr gefällig, obwohl das schöne Intro so plötzlich abreißt; beim Gesang hat Ant zum Teil leichte Intonationsschwierigkeiten, und es wirkt leicht paradox,wenn er mit seiner friedlichen, etwas dünnen Stimme singt:“ … now is the time to be loud …“, doch verbreitet dieser Song eine sehr wohltuende Atmosphäre, und wer selber nicht besser singen kann, sollte auf dem Gesang des 21jährigen Ant nicht herumhacken, weshalb ich übergehe zu Kip PJ: Hinter diesem rätselhaften Titel verbirgt sich ein Exzerpt aus einem unbekannten, 1978 aufgenommenen Song, rückwärts abgespielt. Den Abschluss macht ein Wiegenlied, ein langes typisches Anthony Phillips-Klavierstück im Stile der romantischeren, weniger experimentellen Sachen etwa von Ivory Moon. Das Booklet mit zweifarbigem Cover enthält ein Vorwort von Alan Hewitt vom „Pavilion“, Grußworte von John G.Perry (Bassist auf Wise After The Event und Sides und selbst ein leider kaum beachteter genialer Komponist) und Andy Latimer von Camel, Anmerkungen zu jedem Track von Jonathan Dann und ein Nachwort des Dankes von Ant. Es bietet außerdem ein Foto von Ant aus den späten Siebzigern (7) und einen Ausschnitt aus dem Foto, das man im Genesis Archive-Booklet auf Seite 16 oben findet, hier jedoch in besserer Qualität. The Archive Collection, Volume One, ist ein Muss für alle Anthony Phillips- und alle Mike Rutherford-Fans. Insbesondere die frühe Musical Box-Version macht das Album für Genesis-Fans schlechthin interessant, und preisgünstig ist es obendrein. Lediglich als Einstieg in die Musik von Ant ist dieses Sammelwerk nicht zu empfehlen.
Autor: Andreas Lauer
zuerst veröffentlicht in itNr.25 (Herbst 1998)