- Artikel
- Lesezeit ca. 6 Minuten
Anthony Phillips – Soiree – CD Rezension
Rezension des zehnten Private Parts & Pieces-Album von Anthony Phillips – aus der Feder von Andreas Lauer.
Am Abend des zweiten Millenniums und im 20. Jahr des Bestehens der Private Parts & Pieces-Reihe veröffentlichte Anthony Phillips im November 1999 die zehnte Folge dieser Serie. Sie trägt den schlichten Titel Soirée (Abendmusik) und enthält 20 Klavier-Miniaturen.
Um es vorwegzunehmen: Die CD hält keine großen Überraschungen bereit, ist aber eine Besonderheit insofern, als sie seit New England (1992) das erste Album ist, dessen Material eigens für diese Veröffentlichung komponiert und aufgenommen wurde (mit der Ausnahme eines Reliktes aus Ants Zeit bei Genesis). Es ist ein Kompromiss: Sicherlich ist ein solches abgerundetes Werk zufriedenstellender als eine Sammlung von hier und da aufgenommenen Schnipseln, als eine Live-Improvisations-Session mit Guillermo Cazenave oder Fernseh-Musik; auf der anderen Seite ermöglicht es dem Künstler, weiter seinem Broterwerb nachzugehen (eben der TV- und Library-Musik), weil es sich schneller verwirklichen läßt als etwa ein Band-Album oder ein Werk à la Slow Dance.
War das Instrument, das hier im Mittelpunkt steht, schon auf vielen Veröffentlichungen Ants zu hören, so ist aber Soirée nach Ivory Moon (1986) das zweite „reine“ Klavier-Album. Genauer gesagt handelt es sich um den Challon-Flügel, der für alle in Send Barns oder in der Englewood Road. Vic’s Place“) gemachten Aufnahmen verwendet wurde, so z. B. auch schon für die Tarka-Demos (teilweise zu hören auf der CD Gypsy Suite). Ant zur Seite standen für diese Aufnahmen der Klavierstimmer John Armour, der sich offenbar eine goldene Nase verdiente, sowie beim Abmischen Chris Thorpe, Trevor „Il Professore“ Vallis und Rog Patterson – wobei mit dem Wort „Abmischen“ hier keine Zweifel daran aufkommen sollen, daß alle Titel ohne Overdubs (also Hinzumischen von nachträglich Aufgenommenem) entstanden sind.
Im wesentlichen wurden die Stücke im ersten Quartal des Jahres 1998 geschrieben, lediglich Creation existierte schon seit fast 30 Jahren (November 1968). Die Aufnahmen fanden von Mai bis Juli und im November und Dezember desselben Jahres statt, im Juni 1999 wurden sie für die CD-Pressung vorbereitet. Die Reihenfolge der Titel ist eine zufällige aus insgesamt ca. 2,4329 Trillionen Kombinationsmöglichkeiten, wobei lediglich darauf geachtet wurde, daß nicht zwei sehr ähnliche aufeinanderfolgen.
Die Namensgebung für die einzelnen Miniaturen war, wie Ant in einem Interview mit Alan Hewitt gestand, neben dem Einspielen von drei oder vier Stücken das Schwierigste; hierbei ließ er sich letztendlich von einem Musik-Wörterbuch inspirieren … Der Titel des Albums wiederum geht zurück auf die
Soirées, bei welchen im impressionistischen Frankreich wohlhabende Bürger die Kammermusik etablierter Komponisten rezipierten. Mit diesem Konzept geht auch das Cover-Gemälde von Brenda Brooks konform, welches einen solchen Salon darstellt (ein kontrastreich aktuelles Foto des Künstlers ziert außerdem die Rückseite des Booklets).
Mit empfindsamer Melancholie eröffnet Sad Ballerina die Abendvorstellung. Es gehört wohl zu den überzeugendsten Programmpunkten dieser Soirée – mit einer schlichten, doch unverwechselbaren Melodie, zunächst oktaviert wie bei Let Us Now Make Love, die in typisch Phillipsscher Weise in verschiedenen Lagen variiert wird. Beachtenswert sind die unerwarteten und für fröhliche Herzen gar unerwünschten Modulationen.
Final Lightsverarbeitet eine eher belanglose Weise in Form von Arpeggi – der Titel mag wohl daherrühren, daß die Töne, welche die Melodie ausmachen, jeweils den letzten Ton eines Arpeggios darstellen.
Es folgt die Meditation Sultry Leaves. schwüle Blätter“). Der Dreivierteltakt wird mit Tönen wie Glockenschlägen gefüllt, ein hohes Glöckchen kommentiert nach einer Weile in Achtel- und Sechzehntelnoten den tristen Viertelnoten-Rhythmus.
Seinen Namen hat das Intermezzo Fivers von dem prägenden 5/8-Takt, der bisweilen in einen 6/8-Takt übergeht. Ant selbst fühlt sich bei diesem Titel an Johann Sebastian Bach erinnert (dessen 250. Todestag 2000 begangen wird) und tat sich nicht leicht mit dem Einstudieren, was bei der Aufnahme aber nicht mehr auffällt.
Die Creation, die nie den Weg ins Genesis-Repertoire fand, wurde ursprünglich auf einem mit Nadeln präparierten Klavier, welches dann ähnlich einem Cembalo klang, gespielt, was sich in Vic’s Place aber nicht ohne weiteres verwirklichen ließ. Der Versuch, per Overdub den Cembalo-Klang zu erzeugen, funktionierte zwar, verlieh dem Track jedoch eine Klangfülle, die den Rest der Aufnahmen in den Schatten stellen wollte, und so nahm man wieder Abstand davon. Auch dieser interessante Titel aus den fruchtbaren Endsechzigern erforderte intensiveres Üben als die meisten anderen.
Bloße Lückenbüßer-Qualitäten hat Keepsake. Andenken“) und geht haarscharf am Kitsch vorbei.
Um so bewegender wird es bei Venetian Mystery. Wenngleich man hier – wie auch bei anderen Titeln der Soiree – ein gewisses Déjà-écouté-Erlebnis haben kann, dürfte es schwerlich möglich sein, sich dem Zauber dieses Kleinods vollends zu entziehen …
Nach vergleichbarem Prinzip wie bei Final Lightswird unter dem Namen Scythia toccatenhaft-algorithmisch gearbeitet, allerdings fließen hier viel mehr Ideen ein – eine Reminiszenz z. B. an die humorvoll-experimen-telle Suite Sea-Dogs Motoring von Ivory Moon.
Eine Cantilena ist ein Musikstück mit einer singbaren Melodie. Hier hören wir ein Ostinato (vergleichbar mit einem „Riff“) über wechselnden Harmonien. Ein Mittelteil unterbricht das variierte Ostinato mit einer gefälligen Weise.
The Oregon Trail führt uns, wie Titel und Musik suggerieren, auf die Spuren der Trecks im Wilden Westen. Ein nostalgisch-abenteuerliches, aber schwerfälliges Thema prägt das Stück, aufgelockert durch ein zweites, welches schönere Seiten jener Zeiten zu Gehör bringt.
Eine Passacaglia ist dadurch gekennzeichnet, daß über einem achttaktigen ostinaten Thema im 3/4-Takt abwechslungsreich und virtuos variiert wird. Abwechslungsreichtum und Virtuosität halten sich hier in Grenzen, auch liegt das Thema nicht wie zu Bachs oder Händels Zeiten im Baß. Das Thema ist jedoch sehr einprägsam, weshalb man schon beim zweiten oder dritten Hören Gefallen an der Phillipsschen Passacaglia findet. Von der ursprünglichen Absicht, das Werk „Hymne an [jemanden oder etwas]“ zu nennen, hatte Ant wieder Abstand genommen.
Gazebo (kleines Gartenbauwerk zum Ausschau-Halten) ist eine kurze leise Fantasie mit vielen mit klingenden Obertönen (was durch das rechte Pedal erreicht wird).
Eines der virtuoseren Stücke der Soirée ist Passepied. Dies ist die Bezeichnung für einen alten französischen Tanz im schnellen Dreiertakt. Auch Claude Debussy nannte eines seiner Klavierstücke so, obwohl es in einem Vierertakt stand; Ant glaubte daher, diese Bezeichnung hier „erst recht“ verwenden zu können.
Kurz nach dem Tod der Princess of Wales, Diana, schrieb Ant Fallen Flower und widmete es ihr. Bis zuletzt war er nicht sicher, ob er es auf der CD veröffentlichen wollte.
Fallen Flower mag also für Ant einen gewissen ideellen Wert haben. Musikalisch gehört es zu den unbedeutendsten auf diesem Tonträger.
Die Stimmung hebt sich wieder etwas mit Noblesse Oblige (französisch: „Adel verpflichtet“). Vielleicht hätte sich Prinzessin Diana lieber diesen Titel gewünscht … oder auch den folgenden:
Hope Of Ages scheint musikalisch eine Variation von Noblesse Oblige zu sein. Auch hier wird – wie so oft bei Ant – die Melodie strahlend oktaviert.
Wir hören nochmals Gazebo, diesmal allerdings rückwärts: also Obezag. Dieser Scherz, auf den Ant in den letzten 25 Jahren bisweilen nicht verzichten konnte, leitet über zu Rain Suite: Wer hier, wie der Name verspricht, ein mehrsätziges Werk erwartet, wird leider enttäuscht. Die mäßig schnellen Sechzehntelbewegungen sollen wohl Regen versinnbildlichen. Der Titel läßt sich wohl dadurch rechtfertigen, daß Rain Suite aus deutlich abgrenzbaren Abschnitten besteht, bei denen man sich durchaus verschiedene Regenwetter-Phasen vorstellen kann. Zweifellos handelt es sich um eines der am ehesten „experimentellen“ Teile dieser Abendmusik.
Liedhaft wird es bei dem traurigen After You Left, und Gesang ist hier tatsächlich überflüssig, da der Hörer / die Hörerin auch so versteht, worum es gehen mag …
Um in solcher Melancholie nicht zu enden, hat Ant Summer’s Journey an den Schluss gesetzt. Die Sommerreise ist beschaulich, und sie läßt einen die wundervollen Klangqualitäten des alten Challon schmecken. Nach eher öden alternierenden Quarten wird einem dann der Abschied aus dem Salon nicht allzu schwer gemacht …
Alles in allem ein gefälliges Album ohne wirkliche Neuigkeiten. Es war sicher notwendig, denn seit 1992 hat man nicht viel von Ants Klavierspiel gehört, und es gibt die Gewißheit, daß er noch seinen alten Stil hat, qualitativ etwas abgeflacht vielleicht, denn eigentlich hat er den Kopf voll mit Themen für Tierdokumentationen und Werbejingles, ja, aber auch mit orchestraler Library-Musik. Dank dem im Booklet unbenannten Star der Aufnahme, dem grandios klingenden Flügel, macht Ants
Soiréeletztlich doch wieder Appetit auf mehr.
Autor: Andreas Lauer, Februar 2000