- Artikel
- Lesezeit ca. 11 Minuten
Anthony Phillips – Private Parts & Pieces V: Twelve – Rezension
Das fünfte Private Parts & Pieces Album nannte Anthony Phillips Twelve. Es geht um die zwölf Monate des Jahres und die zwölfsaitige Gitarre.
Am 17.1.2025 wird es 40 Jahre alt: Private Parts & Pieces V: Twelve, ein Album von Genesis-Gründungsmitglied Anthony Phillips, das in mehrfacher Hinsicht etwas ganz Besonderes ist, was ich in dieser Rezension herausstellen möchte. „A Collection of Pieces for 12 String Guitar“ – so steht es ganz unprätentiös als Untertitel auf der LP-Ausgabe.
Prelude:
Die zwölfsaitige Gitarre ist ein Instrument, das gerade einmal eine 100jährige Geschichte hinter sich hat. In der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts waren es vor allem Blues- und Folkmusiker, die den vollen Klang und das Volumen des Instruments bei unverstärkten Auftritten auf der Straße schätzten. Und so war es nicht verwunderlich, dass die ersten wichtigen 12-String-Interpreten Bluesmusiker waren, allen voran Leadbelly. In der Rockmusik ab den späten sechziger und in den siebziger Jahren erlebte das Instrument eine erstaunliche Blütezeit. Einige der meistgespielten Rocksongs sind ohne den markanten Klang der 12saitigen Gitarre nicht denkbar: Hotel California von den Eagles, Wish You Were Here von Pink Floyd, Eight Miles High von den Byrds, Horse With No Name von der Band America, und natürlich Led Zeppelins Stairway To Heaven, um nur einige der bekanntesten zu nennen.
Umso erstaunlicher ist es angesichts der Beliebtheit und Verbreitung, wie wenige Gitarristen einen unverwechselbaren Stil auf diesem Instrument entwickelt haben oder es gar als Soloinstrument kultiviert haben: Leadbelly im Blues, Leo Kottke dann in der amerikanischen Folkmusik, Ralph Towner im Jazz, Neil Jacobs im Bereich Weltmusik, und das war es dann auch schon fast.
Die zwölfsaitige Gitarre bei Genesis
Ach ja, und dann gab es da die Band Genesis, die zwei und manchmal sogar drei zwölfsaitige Gitarren zu einem impressionistisch schimmernden Klanggeflecht übereinander schichtete und dies für etliche Jahre zu einem ihrer Markenzeichen machte. Hier wirkte der stilprägende Einfluss von Gründungsmitglied Anthony Phillips auch noch weit über die Zeit seines Ausstiegs hinaus fort.
Und Anthony selbst hat in seinem Solo-Oeuvre diesem Instrument bis heute viel Platz eingeräumt, zu Recht, gehört er doch zu den innovativsten und besten 12-String-Gitarristen auf diesem Planeten, ein Komponist und Musiker mit einem ganz eigenen und unverwechselbaren Stil. Und das Album, das hier besprochen und gefeiert werden soll, ist tatsächlich – man möge mich korrigieren, wenn jemand etwas weiß, was ich nicht weiß – das erste Album, das ausschließlich Solostücke für zwölfsaitige Gitarre präsentiert!
Die Veröffentlichung(en):
Twelve – so lautet also der Titel dieses Solo-Albums von Anthony Phillips, das gleichzeitig die fünfte Ausgabe seiner mittlerweile zwölf Alben (plus 3 Bonusscheiben) umfassenden Reihe Private Parts and Pieces darstellt. Aufgenommen wurden die Stücke im September 1984. Am 17. Januar 1985 wurde Twelve zunächst auf Vinyl veröffentlicht, von der amerikanischen Firma Passport Records. In UK war die Platte nur über Import erhältlich. Erst mit der CD-Wiederveröffentlichung durch Virgin änderte sich dies. Später gab es von Voiceprint die Doppelausgabe zusammen mit Private Parts & Pieces VI, dem Piano-Album Ivory Moon. Aktuell ist das Album als Teil des von Cherry Red/ Esoteric Recordings herausgebrachten 5-CD-Boxsets Private Parts and Pieces V – VIII erhältlich.
Am Anfang stand die Idee, das Buch Trouble for Trumpets von Peter Cross, der schon einige Cover-Gemälde für Anthony gestaltet hatte, zu vertonen. Ursprünglich dachte Ant an eine Umsetzung mit Orchester. Doch für ein solch umfangreiches Projekt standen keine Plattenfirma und vor allem kein Budget zur Verfügung. So entschloss er sich, dass es ein Album mit Solostücken für Gitarre sein sollte. Genauer gesagt, für zwölfsaitige Gitarre.
Das Cover
Das Cover wurde von Peter Cross wie immer mit viel Akribie und Liebe zum Detail gezeichnet und gemalt. In einer Art Jahreszeiten-Uhr zeigt es in einer zyklischen Anordnung die zwölf Monate als Bilder. Konzipiert ist das – im Jahr 1985 – für das große LP-Format, und es verliert auf den erheblich kleineren CD-Veröffentlichungen leider an Wirkung. Thematisch taucht auch hier immer wieder die Zahl 12 auf, und es werden Themen aus dem genannten Buch von Peter Cross bearbeitet und variiert.
Auf der Rückseite finden sich neben den Titeln und Spielzeiten auch einige Daten zur Produktion sowie der obligatorische launige Hinweis auf Ralph Bernascone und dessen Operette 12 Vodka Night. Im Booklet der Boxset-Ausgabe erfährt man noch einiges zur Entstehungsgeschichte des Albums.
Die Musik
Das Album besteht aus zwölf Stücken, die nach den zwölf Monaten benannt sind. Umgesetzt wird das mit viel Klangmalerei, die den Jahreslauf der Natur assoziieren lässt: klirrender Frost, heftige Regenschauer, perlende Bäche, das Aufblühen der Natur, strahlende Sommertage, grimmige Herbststürme und schließlich auch die feierliche Weihnachtsstimmung – all das sind Bilder, die einem beim Hören kommen. Das Album steht also in der klassisch-romantischen Tradition der Programmmusik, und es ist gleichzeitig ein echtes Konzeptalbum
Technisch zieht Anthony Phillips auf den Stücken alle Register seines Könnens: perlende schnelle Arpeggien, durchgeschlagene Akkorde, rhythmische Ausbrüche, komplexe Polyphonie, leise Flageoletts, Tapping mit rechter und linker Hand, das Spiel mit Klangfarben und Dynamik – all diese Stilmittel setzt er bewusst ein, um das Album trotz der Beschränkung auf ein einziges solistisches Instrument abwechslungsreich und interessant zu gestalten.
Kompositorisch werden hier Themen und Formen minutiös entwickelt und raffiniert auskomponiert. Es gibt keine Miniaturen wie auf anderen Phillips-CDs. Die Tracks sind zwischen vier und sechseinhalb Minuten lang.
Die Gitarre
Alle Stücke spielt Anthony auf derselben Gitarre, einer Alvarez 12-String, und zwar in einer extrem ungewöhnlichen Stimmung, die er nach eigener Aussage durch Zufall entdeckt hat. Dabei entspricht keines der Saitenpaare der Standardstimmung, und das höchste Saitenpaar erklingt in einer Quinte! Jonathan Dann gibt auf Ants offizieller Website das Geheimnis preis, das wir hier allen 12-String-Freaks, die es ausprobieren möchten, nicht vorenthalten wollen:
„Ant says: The tuning used on all the pieces on Twelve is as follows:
A E – 1st pair – upper one is the E, lower the A
G G – 2nd pair – unison
D D – 3rd pair – in octaves, both a fourth down (5 frets !) from their ’normal‘ tuning
C C – 4th pair – in octaves, both a major second down (2 frets !) from their ’normal‘ tuning
G G – 5th pair – in octaves, both a major second down
D D – 6th pair – in octaves, both a major second down“ *
Klangästhetik
Der Sound der Aufnahmen lässt erkennen, dass Ant in dieser Zeit dabei ist, seine eigene Klangästhetik für die zwölfsaitige Gitarre immer mehr zu entwickeln. Gemessen an seinen jüngeren Veröffentlichungen, insbesondere Strings of Light von 2019, wo er dieses Ideal perfektioniert hat, ist manches noch nicht ganz ausgereift, was aber auch den Umständen geschuldet ist: Anthony hat alle Aufnahmen selbst gemacht, ohne einen weiteren Toningenieur. Er hatte zudem die Schwierigkeit, dass er bei der extremen dynamischen Spanne mancher Stücke den Pegel nach den lautesten Passagen ausrichten musste, um nicht zu übersteuern.
Und so hört man an einigen ganz leisen Passagen auch mal ein Nebengeräusch (wie das nächtliche Türenschlagen des Mieters von Ant im Stück „October“, was sogar in den Credits erwähnt ist). Insgesamt ist der Klang aber äußerst brilliant und transparent. Ich muss immer an Pete Seeger denken, der den besonderen Klang der zwölf-saitigen Gitarren einmal mit dem Läuten von Glocken verglichen hat, „the clanging of bells“ **. Es sollte an dieser Stelle noch erwähnt werden, dass es von jedem der Stücke nur ein oder zwei Takes gab, was angesichts der enormen spieltechnischen Anforderungen und der Komplexität der Kompositionen unterstreicht, auf welch hohem Niveau Anthony sich zu dieser Zeit bewegte. Die eigentümliche Stimmung muss er komplett verinnerlicht und verstanden haben, und es ist gar nicht hoch genug einzuschätzen, wie sauber er alle Stücke eingespielt hat.
Track by Track:
January
Langsam gespielte gebrochene Akkorde eröffnen das Stück, pastellfarbene Dissonanzen erklingen, und Ant Phillips spielt hier mit der Klangfarbe, indem er mit dem Plektrum die Saiten ganz nah am Steg anschlägt, was einen merkwürdig klirrenden Sound ergibt, bei dem man unwillkürlich an die klirrende Kälte des Winters denkt. Eine geheimnisvolle Atmosphäre durchzieht das Stück, das sich in kreiselnden Arpeggien steigert, um schließlich mit dem Eingangsthema leise zu enden.
February
Gedämpfte Töne, ein stakkato gespieltes kleines Thema, das anschließend variiert wird, leitet das Stück ein. Ein Spaziergang durch die verschneite Winterlandschaft kommt mir in den Sinn. Das Feuer im Kamin spendet schließlich Wärme und Geborgenheit in der dunklen Nacht. Dann wieder zarte dissonante und doch schöne Klänge, der Blick aus dem Fenster lässt den Winterzauber sichtbar werden.
March
Ein zartes, lichtvolles und impressionistisches Stück lässt das langsame Erwachen der Natur erahnen: Letzte Fröste, dann schmilzt der Schnee, und das Schmelzwasser läuft kreiselnd in kleinen Bächen und Rinnsalen ins Tal. Erstes zartes Grün an den Bäumen, frühblühende Pflanzen sorgen für frische Farben.
April
Der April gilt als der Monat mit den extremsten Wetterwechseln. Und so ist es nur konsequent, dass Ant Phillips die Vertonung dieses Monats mit viel harmonischen, dynamischen und rhythmischen Wechseln und Ausbrüchen würzt. Hochvirtuos und intensiv, ist dies vielleicht das abwechslungsreichste Stück auf dem Album. Und so ist es nicht verwunderlich, dass dieser Track auch für die Compilation Harvest of the Heart ausgewählt wurde, wenngleich ich persönlich mir dort noch zwei oder drei andere Nummern aus Twelve gewünscht hätte, die ich kompositorisch für noch gelungener halte.
May
Es schließt sich ein Mai mit strahlenden Akkorden an, leise beginnend und sich steigernd, schwelgend in satten Harmonien. Ein Stück, das Ruhe und Frieden ausstrahlt, auch wenn Ant im Begleittext der Boxset-Ausgabe beschreibt, dass er den Mai beim Cricket-Spielen mitunter als sehr ungemütlich und regnerisch erlebt hat.
June
June beginnt mit schnell gespielten und sich dynamisch steigernden Arpeggien im 6/4-Takt, die dank der außergewöhnlichen Gitarren-Stimmung harmonisch aus dem Vollen schöpfen. Die Passage geht dann in durchgeschlagene offene Akkorde über, ein sonniger, friedvoller Juni kommt mir in den Sinn. Vor dem wieder leisen Ende wird es dann noch einmal sehr temperamentvoll.
July
Eines meiner persönlichen Lieblingsstücke, getragen durch ein schwungvolles und eingängiges Thema im 6/8-Takt, auf den Basssaiten gespielt, dazu in einer Weise mit Arpeggien auf den Diskantsaiten begleitet, dass man meint, hier spielten zwei Gitarristen. Es erscheint dann ein zweites, ruhigeres Thema, und schließlich wechselt die Atmosphäre und Tonart, es wird düsterer und bewegter mit schnell geschlagenen Rhythmen, dann ein erlösender Akkord, anschließend eine langsame Überleitung, bis am Schluss die einzelnen Themen kunstvoll miteinander verwoben werden und mit einem knalligen Schlussakkord schließen.
August
Leise mit Obertönen beginnt der August, ein Thema im Bass, begleitet mit gebrochenen Akkorden, steigert sich bis zum Höhepunkt: ein Sommergewitter? Zarte Flageoletttöne wechseln sich gegen Ende mit einzeln durchgeschlagenen vollen Akkorden ab, um dann zum Schluss mit leisen, (vielleicht?) durch ein Slide-Röhrchen erzeugten Klangflächen, die mich etwas an die „Glissando Guitars“ der frühen Gong erinnern, ganz lyrisch und verhalten auszuklingen.
September
Leise Arpeggien leiten das Stück ein, eine Art Call-and-Response, es wird wieder mit der Position des Anschlags gearbeitet. Die klirrenden Töne, die nah am Steg gespielt werden, lassen erste leichte Vorahnungen auf kommende Frostnächte vor dem inneren Auge erstehen. Dann entspinnen sich gebrochene Akkorde, farbig, dynamisch und lebensfroh, es scheint ein spätsommerlicher September zu sein, 4/4-und 6/8-Takt wechseln sich ab, das Stück steigert sich bis zu einem Höhepunkt, und am Schluss erklingen verhalten wieder die Akkorde und die kleine Melodie vom Anfang.
October
Farbenfrohe Akkord-Arpeggien wie wirbelnde Blätter, strahlende Sonnentage, aber auch die Melancholie des Herbstes, wabernde Nebelschwaden, all dies vermittelt dieses Stück. Dur und Moll wechseln sich ab. Auch dies ist ein sehr stimmungsvolles Stück mit vielen Klangfarben.
November
Für mich das „rockigste“ Stück auf dem Album, sofern dieser Ausdruck erlaubt ist. Akkorde und Zweiklänge, die hart angeschlagen werden und mit dissonanten Intervallen wie dem Tritonus arbeiten, was dem Stück auch zuweilen etwas Unheimliches verleiht. Schließlich eine orgiastische Steigerung mit schnell gespielten Sololäufen. Da entlädt sich die Wucht eines heftigen Herbststurms. Mich erinnert die Komposition vom Charakter her ein wenig an King Crimson in der „Larks Tongues“-Ära, nur eben nicht mit krachender E-Gitarre, Bass und Schlagwerk gespielt, sondern ausschließlich auf der akustischen zwölfsaitigen Gitarre. Sicher ist der November durch seine Intensität einer der Höhepunkte des Albums.
December
Ein Spannung aufbauendes Intro leitet den letzten Monat ein, dann erklingt eine schöne, gesangliche Melodie, die einem Choral entsprungen scheint. Vielleicht inspiriert durch einen der Choräle, die die jugendlichen Genesis-Musiker im Charterhouse-Internat so gemocht haben, wer weiß? Die Melodielinie entwickelt sich, erklingt mal in der Mittel-, dann in Terzen und schließlich in der Oberstimme. Die feierliche Stimmung endet mit einem satten, vielstimmigen Akkord, der ausklingen darf. Dann zum Abschluss kein Feuerwerk, sondern kontemplative Klänge, klirrende Akkorde, die das Erstarren der Natur in der Kälte symbolisieren. Ein paar gezupfte Akkorde, schließlich ein leiser, unaufgelöster Schlusston, der nicht der Grundton ist.
Hier also endet Anthony Phillips‘ musikalische Reise durch das Jahr. Als ich mir die Jewelbox-Ausgabe der CD von Virgin erstmals kaufte, machte ich durch einen technischen Defekt meines Players übrigens eine interessante Beobachtung: die CD ließ sich nur vollständig abspielen, wenn ich die „Repeat“-Funktion einstellte. Wenn man das macht, stellt man fest, wie nahtlos sich der Januar an den Dezember anfügt. Genial, wie der zyklische Charakter von Twelve in einer Weise musikalisch passend umgesetzt wurde, dass man praktisch bei jedem beliebigen Stück mit dem Hören beginnen kann!
Persönliches Fazit:
Wie Ihr beim Lesen merkt, schreibt hier jemand, den dieses Album gepackt hat, und der die Musik darauf liebt. Ich möchte Euch ermuntern, diesem – wie ich finde – verkannten Meisterwerk eine zweite Chance zu geben. Dies ist gewiss keine Musik, die man einfach im Hintergrund laufen lassen sollte. Es lohnt sich, genauer hinzuhören. Und viele Feinheiten erschließen sich erst beim zweiten, dritten oder vierten Hören. Twelve ist ein Album mit Musik, in der man auch Jahre später immer noch neue Details entdecken kann. Und wenn nur einige von jenen, die bisher keinen Zugang zu diesem großartigen Werk hatten, sich die Musik aufgrund dieser Rezension einmal anhören und neu schätzen lernen würden, dann wäre mir das eine Freude.
Autor: Gereon Schoplick
Quellenangaben:
* Ants Guitar Tuning
** Simmons, Michael. „The origins of Twelve String Power“. frets.com. Acoustic Guitar Magazine. Retrieved 16 January 2019.