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Anthony Phillips – Private Parts & Pieces XII: The Golden Hour – Album-Rezension
Im Frühjahr 2024 kündigte Anthony Phillips etwas überraschend ein zwölftes Album seiner „Private Parts & Pieces“-Reihe an. Tom Morgenstern hat sich mit „The Golden Hour“ beschäftigt.
Die Ankündigung eines weiteren Albums der beinahe legendären Private Parts & Pieces-Reihe Ende März 2024 war eine große Überraschung. Das vorerst letzte Album der Serie, City of Lights, war bereits 2012 erschienen. Zudem hatte Anthony Phillips‘ Plattenfirma Esoteric Records in der Zwischenzeit sein Archiv ordentlich durchgekehrt und aufgewischt. Neben drei Private Parts & Pieces-Box-Sets mit allen bisherigen elf Alben und jeweils einer Bonus CD mit unveröffentlichten Extra Pieces erschien auch je eine 5CD-Box mit allen ebenfalls stark erweiterten Alben seiner beiden Retrospektiv-Serien Missing Links und zuletzt Archive Collections. Das Gelände hatte man also für endgültig abgegrast halten können.
Anthony Phillips hätte selbst nicht gedacht, dass es nochmal ein Private Parts & Pieces-Album geben würde. Eigentlich hatte er vorgehabt, ein Piano-Album auf sein letztes Gitarren-Album Strings of Light (2019) folgen zu lassen, jedoch anhaltende Probleme mit seinem Handgelenk und seiner Schulter hatten regelmäßiges Musizieren in den letzten zwei Jahren praktisch unmöglich gemacht, abgesehen von ein paar schnellen Sessions zwischendurch, als es ihm vorübergehend etwas besser ging. Da es mit dem Piano-Album also nicht weiterging, hatte glücklicherweise sein langjähriger Archivar Jonathan Dann einige ältere Aufnahmen beigesteuert, die Anthony längst vergessen hatte – Material überwiegend aus den 80ern und 90er Jahren. Mithilfe einer Demo-Zusammenstellung von sieben Stücken gab es schließlich grünes Licht von Esoteric für ein neues – und wie Phillips in seinen Liner Notes schreibt, „sehr traditionelles Private Parts & Pieces-Album als Sammlung von Stücken mit ganz unterschiedlichem Hintergrund, die“, so hoffe er, „ein zusammenhängendes Ganzes bilden“.
Um es vorweg zu nehmen: das ist in der Tat gelungen. Das vielseitige und abwechslungsreiche Album lässt sich trotz der einstündigen Laufzeit problemlos in einem Rutsch anhören, unter den 23 zum Teil sehr kurzen Stücken gibt es keinen Skip-Kandidaten.
Es beginnt mit der vierteiligen Wychmore Hill Suite, vermutlich in den 1980ern aufgenommen – ein großartig komponiertes Werk für zwei oder mehrere akustische 12-saitige Gitarren in offenen Stimmungen, das mit einigen Hochgeschwindigkeitspassagen und stark rhythmisch betonter Struktur an frühere Großtaten wie das zweiteilige Titelstück seines Debütalbums The Geese & The Ghost erinnert, jedoch frei von jeglicher pastoraler Anmutung ist. Das hier ist vielmehr lupenreine Rockmusik mit akustischen Gitarren, bereits im ersten Teil Country Mile geht es richtig ab, schade nur, dass nach nur knapp über 3 min schon ausgeblendet wird.
Teil 2 Ring of Steel erinnert in seiner Virtuosität ein wenig an die Großtaten von Kolbe & Illenberger oder Al di Meola / Paco de Lucia – einfach großartig.
Teil 3 fängt zunächst ruhiger an mit Akkordfolgen, die man als typisch Phillips beschreiben könnte. Der Untertitel Peaceful Land passt hier ganz ausgezeichnet, allerdings steigert sich auch hier allmählich die rhythmische Betonung.
Höhepunkt der Wychmore Hill Suite ist jedoch der finale Teil 4 Jack The Lad, ein Stück, das mit einer unglaublichen Dynamik und Energiedichte gleich mehrere Spannungsbögen hintereinander erzeugt und mit seinen virtuosen, aber eingängigen Melodiefolgen auch gleich ins Ohr geht. Dieses Stück rangiert sicherlich unter den besten fünf Gitarrenstücken, die Anthony Phillips je komponiert und eingespielt hat. Unglaublich eigentlich, so eine Großtat zu vergessen und sie jahrzehntelang im Archiv verstauben zu lassen.
Mit Twilight Of A Diva wird dann erstmals zum Piano gewechselt. Eine perfekt durchkomponierte Ballade mit einigen traurigen Maj7-Akkorden und leicht melancholischer Melodieführung.
High Flight ist ein typisches, ambient-artiges Stück mit lang ausklingenden Synth-Akkorden und viel Hall – die erste von zwei Collaborationen mit James Collins, der auch für das primäre Editing des Albums verantwortlich war.
Nach diesem ätherischen Ausflug geht es wieder auf den Boden mit einem langsamen Duett zweier klassischer Gitarren namens Sarabande Noir, co-komponiert und schön gespielt von Anthony und seinem argentinischen Freund Enrique „Quique“ Berro Garcia.
Kathryn Downes Trad. ist tatsächlich sehr traditionell aufgebaut, fast wie ein altes Volkslied. Hätte es einen Text, könnte man die eingängige, aber keineswegs kitschige Piano-Melodie sicher schon nach einem Durchlauf mitsingen. Der deutlich zu vernehmende Rauschpegel deutet hier darauf hin, dass es sich wahrscheinlich um eine ältere Aufnahme handelt, also kein umgeleitetes Stück des noch nicht realisierten Piano-Albums. Wer die im Titel genannte Person ist, bleibt bis zur remasterten Neuausgabe in einigen Jahrzehnten ein Geheimnis.
Das nachfolgende Titelstück The Golden Hour, ein tolles, leider nur zweieinhalb Minuten langes Duett aus 12-String und einer darüber solierenden Nylon-Gitarre, ist eins der Stücke, die erst in den letzten zwei Jahren entstanden sind. Es zeichnet sich aus durch eine „bizarre“ offene Stimmung seiner 12-saitigen Gitarre, die es unmöglich mache, das Stück mit zwei Händen auf dem Piano zu spielen, weil dann ein paar Noten in der Mitte fehlen würden, so Phillips.
Hour Glass ist ein kurzes Pianosolo, das ohne Akkordwechsel auskommt und dessen sich wiederholende Arpeggios einem Glockengeläut sehr nahe kommen. Schön gemacht, gut und sehr stimmungsvoll gespielt. Wegen der einwandfreien Tonqualität wahrscheinlich ein neues Stück – Abkömmling des Piano-Albums?
Roads in Between ist der einzige Song auf dem Album. Eine 1995 aufgenommene Instrumentalversion fand sich bereits auf der Extra Pieces-CD aus dem dritten PP&P-Boxset, dort findet sich auch der Hinweis, dass der Song bereits 1983 geschrieben wurde – es könnte sich hier also um die Originalversion handeln. Sie klingt wie ein Demo von Invisible Men und leidet etwas unter der sehr monotonen Drummachine, es lässt sich jedoch nicht leugnen, dass es ein guter Song mit einem starken Refrain ist.
Benediction besteht aus einer schnellen Reihe von angeschlagenen Arpeggios auf einer Nylongitarre, die ausschließlich von unten nach oben gespielt werden, wobei der abschließende höchste Ton die Melodie darstellt, die einem Choral nicht unähnlich ist, von daher passt der Titel.
Soliloquy for Sylvie ist das andere Stück, das mit Quique Berro Garcia entstand. Dieser spielt das Nylon-Solo, während Ant die Synthie-Streicher darunterlegt. Es ist möglich, dass beide Stücke mit Garcia aus derselben Session vom Juli 1994 stammen, von der vier Stücke bereits auf Dragonfly Dreams (Private Parts & Pieces IX) und Extra Pieces III erschienen waren.
Rushlight ist wie Hour Glass eine Art Loop aus Gitarrenarpeggios einem Glockengeläut sogar noch ähnlicher.
Auch in New World, dem folgenden kurzen Synthesizer-Stück, das James Collins mitkomponiert hat, findet sich kein Akkordwechsel. Dadurch bekommt es eine offene, schwebend-fließende Anmutung, geht dann recht schnell über in Cirrus, ein noch kürzeres Ambient-Stück mit einem rückwärts abgespielten Piano im Hintergrund.
Under the Southern Stars ist ein hübsches Piano-Solo mit klassischer Lied-Struktur, im Mittelteil virtuos gespielt. Auch diese Aufnahme verrät durch den Rauschpegel ihr Alter.
In Sea Drift, einem kurzen Ambient-Stück kommen erneut die 12-saitigen Gitarren in einer Art Endlos-Loop zum Einsatz, der jedoch schnell ausgeblendet wird. Die Tonqualität ist auch hier nicht optimal und an einigen Stellen hört man Nebengeräusche, bei denen es sich um Reste einer Konversation im Hintergrund (oder ein laufendes Radio) handeln könnte.
Night Spectre ist ein weiterer Einminüter mit rückwärts abgespielten Synthie-Tönen über einem durchgehenden Drone, der sich zum Ende hin etwas steigert.
Bei Mean Streets kommt wieder das Rhythmusgerät zum Einsatz. Ein Piano spielt eine einfache Melodie, bevor die warmen Synthie-Akkorde, die Anfangs noch im Hintergrund waren, immer lauter werden und schließlich alles übernehmen.
Ohne Pause fügt sich Sky Diving an. Mit seinen synthetischen Frauenchören und der fernöstlich anmutenden Pentatonik der Synthies im Vordergrund könnte es aus der „Slow Dance“-Ära stammen.
Summer’s Lease ist ein weiteres, klassisch anmutendes Solo-Piano, diesmal im gemächlich voranschreitenden Dreivierteltakt.
His Final Bow beschließt das Album. Ein kurzer, aber stimmungsvoll-melancholischer Abgesang aus fetten Synthie-Akkorden, der dem fiktiven Running Gag Sir Ralph Bernascone gewidmet ist, „der sich nach einem Leben in der (modernen) Musik, der Politik und der Gürteltierzucht zur Ruhe gesetzt“ habe, wie Phillips im Booklet schmunzelnd verrät
Nach starkem Beginn scheint das Album allmählich zu zerfasern, die Stücke werden immer kürzer und gehen oft ineinander über. Oft reiht sich so ein „Linking Piece“ an das nächste. Dennoch scheint schon beim ersten Hören so etwas wie ein roter Faden erkennbar. Wie unbeabsichtigt scheinen Melodien wieder aufgegriffen zu werden, passen Stimmungen zueinander und ergeben tatsächlich das große, so ursprünglich nie beabsichtigte Ganze. Was exakt das ist, was gute Alben der Private Parts & Pieces-Reihe von jeher ausgezeichnet hat. Dazu trägt auch der Sound des Albums bei, der trotz der großen Verschiedenheit des Materials sehr kohärent klingt – wahrscheinlich das Verdienst des behutsamen Masterings von Stephen W Tayler, bei dem mir zuerst etwas die Höhen fehlten, das ich jetzt aber wegen seiner Wärme zu schätzen weiß.
Ein bisschen schade sind nur die fehlenden Informationen im schmalen Booklet zum Entstehungshintergrund der einzelnen Stücke. Darauf angesprochen meinte Anthony Phillips nur, dass bei vielen Erstveröffentlichungen der Private Parts & Pieces-Reihe bewusst nur Basic Credits angegeben waren, einfach, weil ihm das Mysteriöse, das so den Stücken anhaftet, sehr gefallen würde.
Nun gut – der Rezensent würde trotzdem nicht empfehlen, deshalb auf eine Wiederveröffentlichung zu warten, denn dann würde dem Hörer der unmittelbare Genuss dieses hervorragenden Albums entgehen.
Autor: Tom Morgenstern
Private Parts & Pieces: The Golden Hour ist am 31. Mai erschienen und ist in Deutschland bei JPC und Amazon bestellbar.