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Anthony Phillips & Harry Willimson – Gypsy Suite – Rezension
Die Gypsy Suite entstand bereits Mitte der 70er Jahre und wurde schließlich 1994 auf CD veröffentlicht.
Demos in digitalem Gewand
Ungewöhnlich ist es ja schon, wenn zwei Musiker 1994 Aufnahmen aus den Jahren 1975-78 veröffentlichen – überflüssig ist diese CD indes keineswegs, bietet sie doch mit Gypsy Suite einen wunderschönen akustik-gitarristischen Vierteiler und mit Tarka interessante Demo-Versionen zu der 1988 erschienenen und quasi unerhältlichen Orchesterfassung.
Phillips und Williamson lassen uns in der 29-minütigen Gypsy Suite teilhaben an ihren 70er-jahre-Gitarrensessions, bei denen sie ihre Instrumente in diversen offenen Saiten-Stimmungen spielten und ihnen dadurch ungewohnte/ungewöhnliche Akkorde und Klangfarben entlockten. Phillips erzählt: ,,Die Sessions fanden in der Dachstube eines Freundes in Maida Vale statt. Hier tauchten wir in die wundervollen Wohlklänge sechs-und zwölfsaitiger Gitarren ein. Wir vergaßen ein ums andere Mal die Welt um uns herum. In unserem ursprünglichen Konzept war eine wild und leidenschaftlich gespielte Geige Hauptbestandteil der Gypsy Suite; wir skizzierten auch Parts für Cello, Flöte und Oboe.“ Phillips‘ Mitstreiter Harry Williamson beschreibt die Entstehung der Gypsy Suite wie folgt: ,,Wenn wir spätabends durch die Wälder spazierten und dann zu unserem Studio zurückkehrten, um uns die Seele aus dem Leib zu spielen, griffen wir die Fragmente auf, die wir in der Dunkelheit mit unserem inneren Ohr gehört hatten. Es gab keine Regeln, außer dass es gut klingen musste.“
Und das tut die Gypsy Suite, die ein Art Soundtrack oder Klanggemälde für die Gedankenfilme von Phillips und Williamson darstellt: Movement I – First Light ist ruhig, aber nicht langatmig, fließend, ohne dahinzuplätschern, meditativ ohne „Esoterikgewabber“. Die einzelnen Passagen sind gekonnt ineinander verwoben – was für die komplette Gypsy Suite gilt! Hohen Wiedererkennungswert hat das zweimal auftauchende 5/4-taktige Thema. First Light ist die musikalische Beschreibung einer Morgendämmerungsatmosphäre. Für Movement II – Siesta gilt das gleiche wie für First Light: ruhig und fließend. Das von Harry Williamson beschriebene Stimmungsbild wird gut getroffen: „Ruhig und warm – die herrliche Atmosphäre einer mittäglichen Pause im Schatten.“ Movement III – Evening Circle beginnt verhalten mit langklingenden Akkorden, wird dann rhythmischer. Durch seinen durchgehenden Moll-Charakter lässt dieses Stück eine bedrohlich-beklemmende Atmosphäre entstehen. Williamson: ,,Geschichtenerzähler am Lagerfeuer sorgen für Aufregung und Angst.“ Assoziationstip: Die mittlere Passage erinnert an Lover’s Leap – jedoch im 6/4-Takt! In Movement IV – The Crystal Ball geht es pulsierender und noch abwechslungsreicher zu als in den vorherigen Movements: Nach heftigem Beginn folgt ein ruhigerer Mittelteil, der in einen wieder lautstärkeren Schluss mündet. In einer kurzen Passage in der Schlussminute wird ganz kurz und wahrscheinlich unbewusst ein Fetzen von Looking For Someone zitiert. Genau hinhören!
Den zweiten Teil dieser CD nehmen Demoaufnahmen zu Tarka ein, die die Basis bildeten für die in Komposition und Arrangement ausgeweitete Orchesterfassung. Diese Ur-Aufnahmen von 1978 sind weder besser noch schlechter als die Orchesterversion, sondern schlicht anders. Wer die „Fuller ensemble version“ mochte, der wird auch die kargeren Arrangements (Gitarren, Keyboards, Percussion) der alten Version gerne hören und mit Spannung analysieren und vergleichen, was die beiden Versionen unterscheidet und was sie gemeinsam haben: Kompositorisch ist die Demoversion Movement I – The Early Years fast identisch mit dem 88er Movement I:
Langklingende Gitarrenakkorde münden über einige vereinzelte Töne in einen pulsierenden 10/8-taktigen Abschnitt. Es folgt ein quirliger 6/8-taktiger Part, gespielt auf Klavier und Synthesizer. Minimal Music a la Steve Reich oder Philip Glass stellt musikalisch das Spiel junger Otter dar. Das hektische Spiel wird abgelöst durch einen romantischen Abschnitt, bei dem noch das einprägsame Thema der Orchesterfassung fehlt. In einer weiteren verspielten Passage dürfen sich die kleinen Otter nach Herzenslust ausleben. Beendet wird The Early Years durch einen kurzen entspannten 10/8-taktigen Gitarrenteil.
Movement II der Demoversion taucht 1988 als Movement II und Movement III abschnittweise wieder auf: Streams River And Salmon Hunting: Schwebende Akkorde, gespielt von Klavier und Synthy, münden in einen kurzen „Cinema Show-artigen“ 6/8-taktigen kurzen Gitarrenpart. Das Gitarrenspiel wird schneller und geht über in das sich mehrfach wiederholende Hauptthema. lnteressanterweise verwendete Phillips einen Keyboardeffekt, den Tony Banks 1970 bei Stagnation einsetzte! Der folgende schnelle Gitarrenteil endet mit düsteren Akkorden und einigen heftigen Gitarreneinsätzen.
Dunes & Estuary beginnt wie Streams River And Salmon Hunting mit schwebenden Klavierakkorden. Es folgt ein hektischer Gitarrenteil mit einigen Flageolett-Tönen, der in einen klavierlastigen Teil übergeht um im Hauptthema zu enden, das in verschiedenen Variationen dargeboten wird. Ruhig weglassen können hätte man den kurzen Schnipsel Moonfield – Postscript: Phillips demonstriert uns einige mies aufgenommene Klavierrückwärtseffekte – die einzige Schwachstelle der Tarka-Demos. Man wird den Schreiber dieser Kritik möglicherweise dafür steinigen, dass sie mal wieder sehr positiv ausfällt. Aber wie soll man sonst über eine Platte urteilen, die man seit zwei Wochen kaum mehr aus dem CD-Player herausbekommt, nicht etwa weil der Player kaputt wäre oder weil eine Kritik verfasst werden muss – NEIN! – Gypsy Suite ist zeitlos schön und empfehlenswert, ein musikalisches Juwel fernab jeglicher kommerzieller Überlegungen!
Autor: Bernd Vormwald
zuerst erschienen im it-Magazin #14, März 1995
Tracklist
Gypsy Suite
Movement I: First Light (7:58)
Movement II: Siesta (5:08)
Movement III: Evening Circle (5:42)
Movement IV: The Crystal Ball (9:59)
Tarka
Movement I: The Early Years (8:41)
Movement IIa: Streams River And Salmon Hunting (6:38)
Movement IIb: Dunes & Esturay (6:34)
Movemenr IIc: Moonfield – Postscript (1:10
Update 2024
Im Februar 2024 wurde eine neue Version der CD veröffentlicht. Alle Tracks wurden remastered und es gibt zudem mit The Hunt ein bisher unveröffentlichtes Demo. Details zur neuen Version könnt ihr dieser Newsmeldung entnehmen.