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Anthony Phillips – Archive Collection Volume 2 – 2CD Rezension
Anthony Phillips öffnet ein zweites Mal seine Archive und präsentiert Seltenes, Kultiges und Kurioses…
In einem Jahr, da die gesamte Riege der musikalisch aktiven Genesis-Mitglieder mit Konzerten und neuen CDs aufwartet, macht auch Anthony Phillips keine Ausnahme. Freilich bekommen wir ihn nicht live zu hören (dafür erschien im vergangenen Jahr seine dritte Live-im-Studio-CD), und auch bis zum Erscheinen von Private Parts & Pieces XI: Field Day müssen wir uns trotz großer Fortschritte noch etwas gedulden. Doch verkürzt die am 17. Mai 2004 erschienene Doppel-CD nicht nur Anthony Phillips-Fans die Wartezeit, sondern ist auch für alle Fans der frühen Genesis historisch und musikalisch von Interesse. Archive Collection Volume IIsetzt die 1998 begonnene dritte CD-Serie in Ants Diskografie (neben Private Parts & Pieces und Missing Links) fort und soll laut Ant homogener sein als Volume One – sowohl in puncto Klangqualität als auch in der Zuordnung zu den einzelnen Schaffensperioden. Bei 36 verschiedenen Stücken (davon eine drei- und eine achtteilige Suite) auf den zwei Scheiben, die man, so der Künstler, lieber in zwei Sitzungen als in einem einzigen Durchgang anhören sollte, ergibt sich dennoch ein sehr vielfältiges Bild, das nachfolgend untersucht werden soll:
Schaffensperioden
Kompositorisch reicht die CD bis in die frühe Genesis-Zeit zurück, die älteste Aufnahme ist jedoch von 1971. Schwerpunkte bilden acht Aufnahmen aus dem Jahr 1973, drei Stücke aus der Sides-Periode, vier Teile aus einem 1979er Library-Projekt, fünf Stücke aus den Invisible Men-Sessions und – eine kleine Sensation – erste offizielle Veröffentlichungen aus dem Kontext des Musicals Alice. Nicht vertreten sind die Jahre 1975, 1985 bis 1987 und die Zeit nach dem 1988er Tarka-Projekt.
Neun Titel wurden speziell für diese Veröffentlichung abgemischt.
Musikalische Formen
Die CD-enthält wenig Library-Musik, darunter auch ein Stück aus Ants erstem Library-Projekt aus dem Jahre 1976 (Romeo & Juliet). Qualitativ heben sich davon sehr stark die sieben Stücke ab, die man mit dem Etikett „Soundtrack“ versehen könnte: Musik zu Shakespeares Macbeth sowie aus dem surrealistischen studentischen Film Fantomas, aus einer Dokumentation über den Mittleren Osten und aus Alice.
Eine Reihe von Instrumentalstücken lassen sich als „Lieder ohne Worte“ beschreiben; bis auf The Anthem From Tarka handelt es sich dabei um Instrumental-Remixes bereits bekannter Songs. Drei weitere „Lieder“ müssen – da nie wirklich fertiggestellt – nicht nur ohne Worte, sondern im wesentlichen auch ohne Melodie auskommen. Leider nur zwei „echte“ Lieder sind in der Sammlung versteckt; hier singt Ant selbst – wie auch bei einem als „experimentell“ bezeichneten Stück. Den Rest bilden Instrumentalwerke unterschiedlicher Couleur.
Instrumentierung / Mitwirkende
Insgesamt 17 verschiedene Personen haben bei 28 Stücken an der Musik mitgewirkt, sei es als Musiker oder als tontechnischer Assistent. Die bekanntesten sind Michael Giles von King Crimson und John G. Perry (Caravan, Quantum Jump) auf Sisters Of Remindum, Produzent Rupert Hine, Langzeit-Kollaborateur Joji Hirota, Andy McCulloch (ebenfalls King Crimson), Richard Scott bei dem Invisible Men– und dem Alice-Material und zwei Genesis-Mitglieder: Mike Rutherford, bei 5 Titeln unter anderem als Mit-Komponist, an der 12-saitigen Gitarre und am Bass, und als Überraschung John Silver.
Seltenheitswert
Der Seltenheitswert differiert stark zwischen den einzelnen Elementen der Archivsammlung II. Um einen Remix eines bekannten Phillips-Stückes, bei dem dann aber etwas Wesentliches (z. B. Gesang) weggelassen wurde, handelt es sich bei neun Titeln. Bereits von einem Bootleg (In The Beginning-Pentalogie) bekannt, hier aber vollständiger und qualitativ besser ist der Child Song. Um Alternativ-Aufnahmen bekannter Phillips-Stücke handelt es sich in vier Fällen. Völlig neu (in einem Fall mit Abstrichen) ist das Material bei den verbleibenden 17 Stücken.
Highlights
Deep In The Night von Ant und Mike, erarbeitet 1969 in denselben Sessions wie
Beside The Water’s Edge (
Archive Collection Volume One), wurde von Ant später im Vorlauf zu Wise After The Event aufgenommen, dann aber nicht für das Album verwendet. Obwohl ein unvollendeter Song, besticht dieser Titel wie seine Zeitgenossen durch eine eigenartige Schönheit.
Das
Old Wives Tale ist nicht nur eine Solo-Version des späteren Duetts mit Enrique „Quique“ Berro Garcia auf
Private Parts & Pieces III: Antiques, sondern auch die Instrumentalversion des frühen Genesis-Songs
Little Leaf von 1968.
Die
Scottish Suite IIenthält fast alles Material aus dem 1976er Macbeth-Projekt, das nicht in die
Scottish Suite(I) (
Private Parts & Pieces II: Back To The Pavilion) eingeflossen war. Diese Suite ist fast ebenso hörenswert wie ihre Schwester, insbesondere die
Walpurgis Nightwartet mit gruseligen Effekten auf.
Windmill, die älteste Aufnahme auf dieser Doppel-CD (1971), trägt ein Qualitäts-Prädikat von Peter Gabriel, der damals zu dem Stück meinte: „It moves well.“
Eine echte Alternativversion des Klassikers
Tregenna Afternoons verwendet zusätzliche Instrumente wie beispielsweise eine E-Gitarre mit Wah-wah-Effekt und hat einen eigenen Schluss. Genesis-Gründungsschlagzeuger Chris Stewart nimmt in seinem Vorwort zu dieser Veröffentlichung Bezug auf sein bereits 30 Jahre dauerndes Scheitern im Versuch, das Stück auf der Gitarre nachzuspielen.
Picardy Pictures klingt sehr impressionistisch und wurde 32 Jahre lang unverständlicherweise nicht veröffentlicht.
Der Instrumental-Mix von
Falling For Love von der Anthony Phillips Band stellt einen schönen Abschluss der ersten CD dar, und man hört zusätzliche Lead-Gitarren-Parts von Ant.
Siesta, eins von drei Stücken aus dem Jahre 1981 für Gitarre solo, ist aufgrund seiner Harmoniefolgen besonders erwähnenswert.
West Side Alice wurde niemals Teil des Musicals, ist indessen ein besonders gelungenes Klavierstück.
Vic’s Tango ist eine stilistische Kuriosität in Ants Repertoire. Hinzu kommt, dass die verwendete Drumbox absolut keinen Tango-Rhythmus spielt, sondern einen geraden Vierertakt mit Doppelschlag auf „vier“.
Quadrille (ein alter französischer Gesellschaftstanz) ist die erste Veröffentlichung aus dem Musical Alice und macht Geschmack auf viel mehr …
Desert Suite: Insbesondere die Pipelines sind gelungen.
Das Eröffnungsthema aus
Fantomas darf man sich nicht entgehen lassen – nicht nur, weil es ein für Ant untypisches Stück ist, sondern auch, um sich John Silvers Spiel mit den Schlagzeug-Besen nicht entgehen zu lassen – Johns Spezialität, wie schon bei
The Magic Of Time (Genesis:
Archive 1967-75) zu hören ist.
Wie schon bei Volume One hat das kürzeste Stück den längsten Namen: Das experimentelle
Will The Last Man Off The Ice Rink (Please Turn Out The Lights) von 1973 erinnert musikalisch überraschenderweise an das vier Jahre später entstandene
… Maybe I’ll Lend You Mine After Allvon Phil Collins / Brand X.
Auch rein äußerlich ist
Archive Collection Volume IIeine ausgewogen schöne Veröffentlichung und stellt Volume One insofern in den Schatten. Auch auf Marketing-Gags wie limitierte Edition und Bonus-CD hat man verzichtet. Die Vorderseite des in Vanille-Gelb gehaltenen Booklets ziert ein Kunstwerk von Peter Cross, das zwar vermutlich nicht speziell für diese CD geschaffen wurde, aber eine Spezialität des Künstlers darstellt, wie sie schon vor Jahren in einer Ausgabe des Fanclub-Magazins im Rahmen eines Peter Cross Special vorgestellt wurde: Wenn er nicht mit Auftragswerken beschäftigt ist, malt er kleine kompakte Wandregale mit winzigen Fächern, die mit allerlei interessanten Sachen gefüllt sind … Letzteres wiederum trifft auch auf die vorliegende Doppel-CD zu. Elemente aus dem abgebildeten Regal finden sich auch im Booklet und als Siebdruck auf beiden Scheiben wieder. Das fast schon obligatorische Foto von Ant stammt diesmal aus der Invisible Men-Periode.
Das informative Booklet enthält ausführliche Anmerkungen zu allen Stücken einschließlich mancher Anekdote, Vorworte von Zitrusfarmer Chris Stewart und Alan Hewitt (vom offiziellen Anthony Phillips-Fanclub) und ausgiebige Dankesworte von Ant.
Nicht unerwähnt bleiben darf Jonathan Dann, der maßgeblich an der Durchforstung von Ants Tonbändern und der Erstellung dieses Archivs beteiligt war. Und irgendwie bleibt das Gefühl, dass noch genügend Material für Teil III vorhanden ist, zum Beispiel aus den 1990er Jahren …
Autor: Andreas Lauer, September 2004
Foto: Helmut Janisch