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Ray Wilson – Makes Me Think Of Home – Album Rezension
Weniger Monate nach dem akustischen Werk Song For A Friend veröffentluchte Ray das Studioalbum Makes Me Think Of Home, welches mit kompletter Band eingespielt wurde. Christian Gerhardts hat genauer hingehört.
Das letzte Mal, dass in der Genesis-Familie jemand gleich zwei ausgewachsene Rock/Pop-Alben veröffentlicht hat, muss 1976 gewesen sein – und das waren Genesis selbst. 40 Jahre später ist es Ray Wilson, der dies wiederholt – aber mit einer völlig anderen Motivation. Makes Me Think Of Home ist die ursprünglich geplante „elektrische“ Seite des Doppelalbum-Konzepts „Backseat Driver“. Doch Ray verwarf aus mehreren Gründen diese Idee (siehe it-Interview unter diesem Link) und entschied sich, zwei unterschiedliche Alben zu veröffentlichen. Während Song For A Friend mit einer zurückgenommenen Intimität infolge der sparsamen Instrumentierung besticht, geht er auf Makes Me Think Of Home einen anderen Weg. Mit rund 47 Minuten Spielzeit ist dieses Album nur unwesentlich länger als Song For A Friend. Dieses Mal ist aber die ganze Band beteiligt und manch ein Song hat eine melancholische Schwere, die noch anders als auf Song For A Friend durch eine dichtere Instrumentierung getragen wird. Doch auch fröhliche, ironische und kommerziellere Töne bietet das Band-Album. Ebenfalls ist der Autorenstab ein anderer. Und es gibt keine Coverversion. Dafür aber den ein oder anderen Einfluss großer Bands.
Allein optisch ist das Album schon ein Highlight. Wie bereits Song For A Friend kommt Makes Me Think Of Home in einem ansprechenden Digibook (ähnlich der Alben Wolflight von Steve Hackett oder Seconds Out und The Lamb Lies Down On Broadway aus den Genesis Boxsets). Es ist auch als digitales Album und auf Vinyl erhältlich. Cover und Bookletgestaltung sind Wilson-typisch und stammen einmal mehr von Thomas Ewerhard. Dieses Mal ist Ray nicht auf dem Cover zu sehen. Auch das dürfte eine gewollte Abgrenzung zu dem von ihm favorisierten, weil persönlicherem Werk Song For A Friend sein.
U2 vielleicht? Das Album beginnt mit Never Should Have Sent You Roses, das gleich gut sechs Minuten lang ist. Das Stück hat eine gewisse Ironie und man kann erkennen, dass U2 einer der Einflussfaktoren für Ray ist. Im Song geht es um eine Engländerin, die einen Schotten verlässt, was diesen in den Selbstmord treibt. Die Rose ist dabei eine Referenz an England. Zu dem Song gibt es auch ein Video, das wir euch nicht vorenthalten wollen:
The Next Life ist dagegen bierernst. Ray besingt sein eigenes Leben, wie es hätte sein können, oder besser: wie es hätte enden können, wäre er nicht eines Tages zu der Einsicht gekommen, dass Jägermeister nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Ruppig ist das Stück, manchmal aggressiv. Aber immer bestimmend, auf den Punkt. Ein guter Rocksong.
Die erste richtige Leichtigkeit bietet Tennessee Mountains. Die Stimmung täuscht, auch dieser Song hat ein eher melancholisches Thema – das Warten auf eine geliebte Person in der Einsamkeit der Berge in Tennessee …
Mit Worship The Sun ist Ray ein echter Grower gelungen. Der Song braucht lange, bis er ankommt. Er erinnert in seiner Struktur sehr an Songs von Chasing Rainbows (Follow The Lie, Wait For Better Days), was auch nicht verwunderlich ist. Peter Hoff ist hier ebenfalls als Co-Autor verantwortlich für die Musik. Außerdem ist hier auch wieder das Saxophon ein Teil der Instrumentierung. Inhaltlich ist Worship The Sun eine Art Sommervariante von Tennessee Mountains.
Eines der zentralen Stücke der ganzen Kampagne um seine beiden neuen Alben ist das fast achtminütige Makes Me Think Of Home. Ob es eine Art Powerballade ist oder doch ein seltener Ausflug in progressive Strukturen möge jeder selbst feststellen. Makes Me Think Of Home transportiert viel Gefühl und viel Atmosphäre und war schon früh Teil des Live-Sets seiner „plugged“-Konzerte. Das Stück enthält Einflüsse progressiver Musik, ein wenig Floyd, ein wenig Genesis, vielleicht auch Marillion. Und das tut dem Album gut. Inhaltlich verwirrt Ray mit diesem Song – mit ‚Home‘ ist zwar Schottland gemeint, aber es geht vor allem um die Isolation in seinem Leben dort – und sein Art, in die Dunkelheit seines Studios zu flüchten, in der er mehr und mehr Lebensenergie verlor. Diese gewann er erst in Polen wieder zurück …
Die erste Single, falls man das in diesen Zeiten noch so nennen darf – war aber Amen To That – eine kurzweilige Popnummer, die mit einem heiteren Video dazu noch exzellent illustriert wurde. Es ist auch ein Kontrast zu Stücken wie Makes Me Think Of Home. Und Amen To That erinnert in seiner Instrumentierung eher an den Unplugged-Stil des Vorgänger-Albums, jedoch passt es von der Stimmung her viel besser auf Makes Me Think of Home.
Anyone Out There erinnert am ehesten an Songs von Unfulfillment. Der Song baut sich zum Refrain eher schwerfällig auf, explodiert dann aber förmlich ins Ohr. Hier beschreibt er einen Mann, der mit Drogen und Alkohol versucht, seinem Leben zu entfliehen. Es geht um Selbstzerstörung, allerdings auch mit einem positiven Unterton, dass das Leben eben lebenswert ist.
Eher unauffällig wirken die beiden Songs Don’t Wait For Me und Calvin & Hobbes. Während Don’t Wait For Me (ein Song über Stalking und den Wahnsinn dahinter) wieder einige atmosphärische Parallelen zu Chasing Rainbows aufweist, ist Calvin & Hobbes eigenständiger. Interessanterweise stammen beide Songs aus der Feder von Scott Spence, der seinerzeit auch viel zum grandiosen SHE-Album beisteuerte. Calvin & Hobbes ist aber kein Rock-Kracher, sondern eine verspielte Nummer, die Scott für seine Tochter schrieb und dessen Thema in der Tat die beiden Figuren Calvin & Hobbes sind, die auch in Deutschland nicht unbekannt sind. Spence beschreibt, wie das Leben durch die imaginären Augen von Kindern sein kann. Alles ist möglich.
Das Highlight kommt zum Schluss: Eher unscheinbar krabbelt The Spirit nach dem ersten Hören in Ohr und Hirn, doch da geht es nicht mehr weg. Es ist so etwas wie der perfekte Song für einen Tarantino-Film, der nie erschien. Man kann nicht anders – es pfeift der Cowboy auf dem Pferd, eine wunderbare Melodie – das Album geht unbeschwert zu Ende. Und es versöhnt akustische mit E-Gitarren. Irgendwie zumindest. Es ist das einzige Stück auf dem Album, bei dem Uwe Metzler als Co-Autor mitwirkte. Es wird spannend sein zu sehen, wie Ray das Pfeifen im Konzert hinbekommt …
Makes Me Think Of Home mag für manche eine Überraschung sein. Viele haben unter Umständen ein schweres Rockalbum erwartet, als Ray seinerzeit verriet, ein akustisches Album und ein Band-Album zu produzieren. Aber Makes Me Think Of Home ist deutlich näher an Chasing Rainbows als an SHE. Das liegt mitunter auch daran, dass Peter Hoff erneut viele musikalische Ideen beigesteuert hat. Die ersten sechs Songs basieren auf seinen musiklaischen Ideen und vielen Stücken hört man das auch an (Tenessee Mountains, Worship The Sun). Makes Me Think Of Home ist immer dann grandios, wenn es sich von früheren Stilen etwas absetzt. Das gilt für den Titelsong ganz besonders, aber auch für The Spirit und mit Abstrichen trifft das auch auf Never Should Have Sent You Roses zu. Weitere Highlights sind Wilson-typische Songs wie The Next Life oder Anyone Out There. In der Summe hat Ray erneut ein hochwertiges Album vorgelegt, das zudem auch gut produziert ist. An manchen Stellen wünscht man sich mehr Mut für das Ausgefallene – oder, mit Blick auf sein wohl bestes Album SHE, schlicht mehr Druck. Aber nun hat er 20 neue Songs in einem Jahr veröffentlicht. Genug Material, um seine Live-Shows mit eigenen Songs aufzuwerten. Amen To That!
Autor : Christian Gerhardts
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Links:
Ray Wilson – Tourdaten 2016
Ray Wilson – Tourdaten 2017
Ray Wilson – Song For A Friend – Rezension
Ray Wilson – Makes Me Think Of Home – Diskussion im Forum