- Artikel
- Lesezeit ca. 5 Minuten
Peter Gabriel – US – Rezension
Stolze sechs Jahre benötigte Peter Gabriel, um seiner Hommage an den Mainstream, So, einen Nachfolger hinterherzuschieben. Sein neues Album hat erneut einen Titel mit nur zwei Buchstaben. Bernd Zindler prüft die Qualität.
Auch aus diesem Grund wäre die Bezeichnung „Meisterwerk“ wohl passender. Peter hat in den sechs Jahren, die zwischen So und US liegen, eine Menge durchlebt. Zunächst waren da die Projekte, in die er eine Menge Energie steckte und die er auch immer noch weiterführt. Dazu gehörte unter anderem die Weiterarbeit an der Idee des „Realworld Experience Park“, die „Human Rights Now“-Tour sowie die Teilnahme an anderen Benefizkonzerten. Außerdem ist da noch das von ihm ins Leben gerufene Menschenrechtsprojekt „WITNESS“, bei dem Aktivisten in der ganzen Welt Videokameras und anderes Gerät zur Verfügung gestellt bekommen, um so Verbrechen auf Film festzuhalten. Auf diese Weise kann niemand sagen, es würde nichts passieren oder er hätte nichts gesehen. Täter können mit diesen Beweisen überführt werden und Andere werden von ähnlichen Taten abgeschreckt. Zu all diesen Projekten kamen allerdings noch erhebliche persönliche Probleme. Zunächst war da die Scheidung von seiner Frau Jill. Danach gingen die Beziehung zu Rosanna Arquette und später die zu Sinead O’Connor auseinander. In Gruppentherapien versuchte er, mehr über sich herauszubekommen und so eine Art Heilung zu erfahren.
Diese Erfahrungen wirkten sich auf das gesamte Album aus und deshalb verwundert es nicht, dass am Ende seiner Arbeit ein, wie er es nennt, „me-type-record“ (ich-typische Platte) herausgekommen ist. Und tatsächlich, die Texte lassen tief in die Seele des Mannes blicken und sind häufig ein Spiegelbild seiner offen dargelegten Gefühle. Es war einfach wichtig für ihn, ein derartiges Album zu schreiben. Auch musikalisch hat sich bei ihm einiges getan. Passion hat im Grunde schon 1989 die Richtung angezeigt, in die es ihn immer mehr zieht. Der Umgang und das Musizieren mit Künstlern aus der ganzen Welt hat seitdem seine Arbeit immer mehr beeinflusst. Für das neue Album hat er auf die Musiker zurückgegriffen, die er bereits bei vorherigen Platten um sich versammelt hatte und die auch gleichzeitig zum Kern seiner Live-Band gehören. Da sind zunächst seine vertrauten Weggefährten Tony Levin (Bass), David Rhodes (Gitarre), sowie Manu Katché (Drums). Aber auch andere wohl bekannte Künstler wie Brian Eno, Shankar, Sinéad O’Connor und Peter Hamill wirkten mit, unterstützt von Musikern aus Argentinien, Ägypten, Senegal, Russland, Kenia und der Türkei. Wäre noch Daniel Lanois zu erwähnen, der abermals als Co-Produzent auftritt. Die Handschrift des Franko-Kanadiers ist nicht zu überhören. Er hat dem Rohprodukt, welches in 18 Monaten fertiggestellt wurde, den letzten Schliff verliehen. Das Endprodukt ist eine Vereinigung von raffinierten Klangstrukturen mit fremd anmutenden Musikinstrumenten.
Come Talk To Me
Mit dem ersten Stück auf dem Album öffnet Peter Gabriel die Tore zu seiner Welt. Come Talk To Meist Ausdruck eines Erlebnisses mit einer seiner Töchter, die ihm vorwarf, er würde nicht mehr mit ihr reden. Die Stimmen von Peter und Sinead O’Connor harmonieren auf eine sehr schöne Weise zusammen und in Kombination mit uns unbekannten Instrumenten wie dem Doudouk ergibt sich ein gelungenes Arrangement.
Love To Be Loved
Liebessehnsüchte plagen Peter in Love To Be Loved. Dieses Stück wird in seinem Verlauf von immer mehr Instrumenten begleitet und verleiht dem Lied auf diese Weise einen Aufbau, der in einem vertraut klingenden Finale seine Vollendung findet. Vielleicht ist dies auch eine Art Ausdruck der Erlösung, die die gepeinigte Suche beendet.
Blood Of Eden
…war ja schon in dem Kinofilm „Bis ans Ende der Welt“ von Wim Wenders zu hören. Allerdings unterscheidet sich die im Film verwendete Version schon im Refrain von der des Albums. Textlich zwar identisch, überzeugt diese Aufnahme vor allem durch die verbale Verschmelzung von Sinead O’Connor und Peter, die somit dieser schönen Ballade einen gefühlvollen Rahmen verleiht. Diese „Vereinigung“ ist auch Ausdruck der Idee dieses Liedes. Der Garten Eden wurde als Schauplatz der Handlung gewählt, weil hier nach Peters Meinung zum ersten und einzigen Mal Mann und Frau als eine Einheit existiert haben.
Steam
Danach folgt Steam. Der Hang zu funk-angehauchten Stücken wurde ja bereits bei Sledgehammer deutlich. Tatsächlich sieht Peter Steam als einen „Sohn“ des Mega-Hits aus dem Jahr 1986. Man kann erwarten, dass dieser charttaugliche Song als Single ausgekoppelt wird. Interessanterweise findet man auf der Digging In The Dirt-Single als B-Seite Quiet Steam. Es handelt sich dabei um eine ruhigere, ganz andere Version, die eine besondere Stimmung erzeugt und an die ersten Gabriel-LPs erinnert. Quiet Steam belegt auch, dass von vielen Stücken des Albums unterschiedliche Versionen existieren sollen, die hoffentlich noch als B-Seiten das Tageslicht erblicken.
Only Us
In Only Us baut Peter durch geschicktes Arrangieren der verschiedenen Instrumente einen für ihn schon fast typischen Klangteppich auf. Obwohl etwas schwer zugänglich und gewöhnungsbedürftig, entwickelt der Titelsong eine ganz eigene Atmosphäre. Seine Anmerkung dazu: „Wenn man andere Menschen in eine Schachtel steckt, auf der ’sie‘ steht, urteilt man anders über sie als würde man diese Menschen in eine Schachtelstecken, auf der ‚wir‘ steht.“
Washing Of The Water
Washing Of The Water ist wohl eines der persönlichsten Lieder der gesamten Platte. Er öffnet sich regelrecht dem Hörer, singt aus tiefster Seele heraus über Ängste und offenbart so seine Gefühle auf ergreifende Art. Der Gesang geht richtig unter die Haut und es bleibt nur zu hoffen, dass das Wasser wirklich seine heilende Wirkung auf Peter hat. Mit Sicherheit einer der großartigsten Momente des Albums.
Digging In The Dirt
Es folgt Digging In The Dirt, welches auch gleichzeitig die erste Single-Auskopplung war. Angeregt durch ein Projekt über „Death Rows“ (Bezeichnung für die Gefängnistrakte der Todeskandidaten in USA), kam es Peter in diesem Song darauf an, einmal das Böse in sich ans Tageslicht zu bringen. „Wie ein Hund, der immer tiefer gräbt, wird Schicht um Schicht des Drecks abgebaut, bis nur noch der Teufel, der in jedem von uns steckt, übrig bleibt.“ So bezeichnet Peter diesen Prozess, der (vermutlich als Erkenntnis aus Selbsthilfekursen) ein Mittel zur Heilung der angeknacksten Seele ist.
Fourteen Black Paintings
Fourteen Black Paintings wird ein Aufruf an die Menschheit verkündet, der helfen soll, das Leid und den Kummer auf der Erde zu beenden und eine bessere Welt zu schaffen. In dem, an den kurzen, aber ausdrucksstarken, Text anschließenden Instrumentalteil, ist wieder diese gekonnte Verschmelzung verschiedener Instrumente zu hören, die so eine faszinierende Stimmung erzeugt
Kiss That Frog
Ideengeber für das nächste Stück, Kiss That Frog, war das Buch „The Uses Of Enchantment“ des Kinderpsychologen Bruno Bettelheim. In dem hitverdächtigen Song wird das Märchen vom Froschkönig auf tiefenpsychologische Aussagen hin untersucht. Heraus kommt eine amüsante Up-Tempo-Nummer, die die Parallelen von Märchen und Sexualität aufzeigen möchte. Motto: Wenn man nur kräftig dran glaubt, ist alles möglich!
Secret World
Beendet wird das Album mit Secret World. Ein sehr gelungenes Stück, in dem Peter einen Rückblick auf vergangene Tage wirft und das wohl als eine Hommage an seine Ex-Frau Jill zu sehen ist. Die letzte Zeile dieses Liedes sagt im Grunde das, was auch für das gesamte Werk „US“ gilt: „ssh listen …“
„US is one of us, two of us and all of us“
Autor: Bernd Zindler
zuerst veröffentlicht in it Nr.05 (Dezember 1992)